Familiennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer darf nicht unverhältnismäßigen Beschränkungen unterworfen werden

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in der Rechtssache Genc (Az.: C-561/14) am 12. April 2016 entschieden, dass die Einführung neuer Integrationsregelungen für den Kindernachzug durch Dänemark unverhältnismäßig und deshalb mit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 unvereinbar ist.

Herr Genc, der Kläger des Ausgangsverfahrens, ist ein am 17. August 1991 geborener türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater, der ebenfalls türkischer Staatsangehöriger ist, reiste am 14. Dezember 1997 nach Dänemark ein und besitzt seit dem 21. April 2001 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in diesem Mitgliedstaat.

Die Eltern von Herrn Genc wurden mit Urteil eines Gerichts in Haymana (Türkei) vom 30. Dezember 1997 geschieden. Obgleich der Vater des Klägers des Ausgangsverfahrens sowohl für Herrn Genc als auch für dessen zwei ältere Brüder das Sorgerecht erhalten hatte, lebte der Kläger des Ausgangsverfahrens nach der Scheidung weiterhin bei seinen Großeltern in der Türkei.

Die beiden älteren Brüder von Herrn Genc besitzen seit Mai 2003 eine Aufenthaltserlaubnis in Dänemark.

Am 5. Januar 2005 beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens erstmals eine Aufenthaltserlaubnis in Dänemark. Zu diesem Zeitpunkt war sein Vater als Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat beschäftigt.

Am 15. August 2006 lehnte die dänische Ausländerbehörde seinen Antrag auf der Grundlage des dänischen Ausländergesetzes ab, da der Betroffene keine hinreichende Verbindung mit Dänemark, um ihm eine erfolgreiche Integration in diesem Mitgliedstaat zu ermöglichen, besitze oder besitzen könne. Diese Entscheidung wurde am 18. Dezember 2006 vom Integrationsministerium bestätigt.

In seiner Entscheidung vom 18. Dezember 2006 kam das Integrationsministerium unter Berücksichtigung insbesondere der Gesichtspunkte, dass Herr Genc in der Türkei geboren worden sei, dort seine ganze Kindheit verbracht habe und bis zu diesem Zeitpunkt zur Schule gegangen sei, dass er niemals in Dänemark gewesen sei, dass er nur Türkisch spreche, dass es nichts gebe, was ihn mit der dänischen Gesellschaft verbinde, und dass er seinen Vater in den letzten zwei Jahren nur zweimal gesehen habe, zu dem Ergebnis, dass er in seiner Jugend nicht zu einem solchen Grad durch die dänischen Werte und Normen geprägt worden sei, dass er eine hinreichende Verbindung mit Dänemark, um ihm eine erfolgreiche Integration in diesem Mitgliedstaat zu ermöglichen, besitze oder besitzen könne. Die Ablehnung beruhte auf einer geänderten Fassung des dänischen Ausländergesetzes – wonach für die Familienzusammenführung die besonderen Integrationsvoraussetzungen nur dann nachgewiesen werden mussten, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung nach einer Frist von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem der Elternteil, zu dem der Zuzug erfolgen soll, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit der Möglichkeit zum Daueraufenthalt erhalten hat.

Am 17. September 2007 lehnte das Integrationsministerium die Überprüfung des von Herrn Genc gestellten Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab.

Im dem Vorlageverfahren war daher zu klären, ob die im dänischen Ausländergesetz neu eingeführte Regelung, die bei einem verspäteten Nachzugsantrag die Familienzusammenführung von besonderen Integrationsvoraussetzungen abhängig macht, mit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 vereinbar ist.

Zunächst stellt der Gerichthof der Europäischen Union mit seinem Urteil klar, dass die Stillhalteklausel auch Nachzugsfälle erfasst. Art. 13 ARB 1/80 erfordere nur, dass ein Elternteil als Arbeitnehmer ordnungsgemäß beschäftigt sei. Ein ordnungsgemäßer Aufenthalt der nachziehenden Familienangehörigen – hier des Sohnes – sei nicht erforderlich. Damit wird die bereits zu Art. 41 des Zusatzprotokolls mit der Dogan-Entscheidung (C-138/13) entwickelte Rechtsprechungslinie auf Art. 13 ARB 1/80 übertragen. Diese Gleichstellung – die bereits vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommen worden war – ist wegen des unterschiedlichen Wortlauts der beiden Stillhalteklauseln keinesfalls unumstritten gewesen.

Der Gerichtshof führt unter Randnummer 50 hierzu aus:

„Daher ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme minderjähriger Kinder von sich im betreffenden Mitgliedstaat als Arbeitnehmer aufhaltenden türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als der Beschluss Nr. 1/80 in Kraft trat, und die somit geeignet ist, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet zu beeinträchtigen, eine „neue Beschränkung“ der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses darstellt.“

Im Rahmen seiner Entscheidung legt der Gerichtshof erstmalig die immanente Schranke der Stillhalteklauseln, den zwingenden Grund des Allgemeininteresses, aus. Er kommt zu dem Ergebnis, dass das Ziel, eine erforderliche Integration zu erreichen, ein derartiges Ziel sei:

„Hinsichtlich der Frage, ob das Ziel, eine erfolgreiche Integration zu erreichen, einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die Integrationsmaßnahmen im Rahmen des Unionsrechts beigemessen wird, wie sich aus Art. 79 Abs. 4 AEUV, der sich auf die Begünstigung der Integration der Drittstaatsangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaaten als zu fördernde und zu unterstützende Bemühungen der Mitgliedstaaten bezieht, und aus mehreren Richtlinien, wie der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12) und der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), ergibt, denen zufolge die Integration von Drittstaatsangehörigen entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts beiträgt, der als eines der Hauptziele der Union im Vertrag angegeben ist.“

Er übernimmt aber nicht die Formulierung aus den Schlussanträgen, dass die Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum bei der Bestimmung zwingender Ziele des Allgemeininteresses hätten.

Denn Schwerpunkt legt der Gerichtshof auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung:

„60 Da, wie die dänische Regierung vorbringt, das Erfordernis, eine hinreichende Verbindung mit Dänemark nachzuweisen, für die betreffenden Kinder eine erfolgreiche Integration in diesem Mitgliedstaat gewährleisten soll, geht die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung offenkundig von der Annahme aus, dass sich diejenigen Kinder, für die der Antrag auf Familienzusammenführung nicht innerhalb der gesetzten Frist gestellt worden ist, in einer Lage befinden, in der ihre Integration in Dänemark nur gewährleistet ist, wenn sie dieses Erfordernis erfüllen.

61 Dieses Erfordernis, das durch das Ziel einer Ermöglichung der Integration der betreffenden minderjährigen Kinder in Dänemark gerechtfertigt sein soll, gelangt jedoch nicht nach Maßgabe der persönlichen Situation der Kinder zur Anwendung, die einen negativen Einfluss auf ihre Integration im betreffenden Mitgliedstaat haben kann, wie etwa ihr Alter oder ihre Verbindungen mit diesem Mitgliedstaat, sondern nach Maßgabe eines Kriteriums, das von vornherein keinen Zusammenhang mit den Chancen für die Erreichung dieser Integration aufweist, nämlich der Zeitspanne zwischen der Gewährung einer endgültigen Aufenthaltserlaubnis in Dänemark für den betreffenden Elternteil und dem Tag der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung.

62 Insoweit ist schwer nachvollziehbar, inwiefern die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung nach der Zweijahresfrist, die der Erteilung einer endgültigen Aufenthaltserlaubnis in Dänemark an den sich in diesem Mitgliedstaat aufhaltenden Elternteil folgt, das Kind in eine ungünstigere Situation versetzt, um seine Integration in Dänemark zu ermöglichen, weshalb der Antragsteller verpflichtet sein soll, eine hinreichende Verbindung des Kindes mit diesem Mitgliedstaat nachzuweisen.

63 Der Umstand, dass der Antrag auf Familienzusammenführung vor oder nach den zwei Jahren gestellt worden ist, die der Erteilung der endgültigen Aufenthaltserlaubnis an den sich im betreffenden Mitgliedstaat aufhaltenden Elternteil folgen, kann nämlich für sich genommen kein Indiz bilden, das als solches darüber Aufschluss böte, welche Absichten die Eltern des von diesem Antrag betroffenen Minderjährigen hinsichtlich seiner Integration in diesem Mitgliedstaat hegen.

64 Im Übrigen führt die Verwendung dieses Kriteriums für die Abgrenzung, für welche Kinder eine hinreichende Verbindung mit Dänemark nachzuweisen ist und für welche nicht, zu unstimmigen Ergebnissen bei der Beurteilung der Fähigkeit, sich erfolgreich in diesem Mitgliedstaat zu integrieren.“

65 Wie nämlich der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, findet dieses Kriterium zum einen ohne Berücksichtigung der persönlichen Situation des Kindes und seiner Verbindungen mit dem fraglichen Mitgliedstaat Anwendung und birgt zum anderen die Gefahr in sich, dass je nach dem Zeitpunkt der Antragstellung für die Familienzusammenführung Kinder ungleich behandelt werden, die sich sowohl im Hinblick auf ihr Alter als auch auf ihre Verbindungen zu Dänemark sowie hinsichtlich ihrer Beziehung zu dem dort ansässigen Elternteil in einer völlig gleichartigen persönlichen Situation befinden.

66 Dazu ist festzustellen, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die Beurteilung der persönlichen Situation des betreffenden Kindes durch die nationalen Behörden auf der Grundlage hinreichend genauer, objektiver und nicht diskriminierender Kriterien zu erfolgen hat, die im Einzelfall zu prüfen sind und deren Anwendung zu einer mit Gründen versehenen Entscheidung führen muss, gegen die mit einem wirksamen Rechtsbehelf vorgegangen werden kann, um eine Verwaltungspraxis der systematischen Ablehnung zu vermeiden.

Diesen Ausführungen kann entnommen werden, dass die persönliche Situation konkret des Familienangehörigen in Blick genommen werden muss. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die 2-Jahresfrist kein verhältnismäßiges Kriterium sei, um den Nachzug zu begrenzen.

Einzelheiten zur Stillhalteklausel finden sich in der Onlinekommentierung