Nach Ansicht von Generalanwältin Kokott kann die Familienzusammenführung drittstaatsangehöriger Ehepaare grundsätzlich davon abhängig gemacht werden, dass der nachzugswillige Ehegatte eine Sprach- und Landeskundeprüfung besteht. Bei Unzumutbarkeit oder besonderen Umständen müsse im Einzelfall jedoch eine Befreiung von der Prüfung möglich sein, zudem dürften etwaige Prüfungsgebühren nicht so hoch sein, dass sie ein Hindernis für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung schafften.
Die Niederlande verlangen für die Familienzusammenführung drittstaatsangehöriger Ehepaare, dass der nachzugswillige Ehegatte vor der Einreise eine Integrationsprüfung ablegt, in der er Grundkenntnisse der niederländischen Sprache und grundlegende landeskundliche Kenntnisse nachweist. Damit soll die Ausgangslage der Nachziehenden in den Niederlanden verbessert und deren Integration in die niederländische Gesellschaft gefördert werden. Bei gravierender geistiger oder körperlicher Behinderung sowie in Härtefällen kann eine Befreiung erteilt werden. Außerdem sind Staatsangehörige bestimmter Drittstaaten, wie Kanada und USA, freigestellt. Zu der Prüfung wird nur zugelassen, wer die Prüfungsgebühr in Höhe von 350 Euro beglichen hat. Im Fall der Wiederholung ist sie erneut zu zahlen. Zur Vorbereitung auf die Prüfung bieten die Niederlande in 18 Sprachen ein Selbststudienpaket an, das einmalig 110 Euro kostet.
Der niederländische Raad van State möchte wissen, ob diese Integrationsprüfung mit der Richtlinie über Familienzusammenführung vereinbar ist, die den Mitgliedstaaten unter der Überschrift „Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung" gestattet, von Drittstaatsangehörigen zu verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen.
Der Raad van State hat über die Fälle einer Aserbaidschanerin und einer Nigerianerin zu entscheiden, die ihren in den Niederlanden lebenden Ehegatten, die ebenfalls Drittstaatsangehörige sind, nachziehen möchten. Beide beriefen sich auf körperliche bzw. auf psychische Leiden, um von der Integrationsprüfung befreit zu werden. Die zuständige Behörde hielt diese aber nicht für hinreichend gravierend und lehnte die Anträge deshalb ab.
In ihren Schlussanträgen von heute vertritt Generalanwältin Juliane Kokott die Ansicht, dass die hier in Rede stehende Integrationsprüfung eine grundsätzlich zulässige Integrationsmaßnahme im Sinne der Richtlinie darstelle. Das Erlernen der Landessprache sei eine wesentliche Voraussetzung für die Integration. Sprachkenntnisse verbesserten nicht nur die Aussichten von Drittstaatsangehörigen auf dem Arbeitsmarkt, sondern ermöglichten es ihnen auch, sich in Notsituationen selbständig um Hilfe im Aufnahmeland zu bemühen. Landeskundliche Grundkenntnisse machten den Nachziehenden darüber hinaus mit wichtigen Grundregeln des Zusammenlebens vertraut, was Missverständnisse und Rechtsverstöße vermeiden helfen könne. Da es den Niederlanden gerade um eine Verbesserung der Ausgangslage der Nachziehenden gehe, wären Schulungen erst nach der Einreise nicht gleich wirksam. Der Integrationstest sei auch angemessen, insbesondere würden nur elementare Sprachkenntnisse verlangt, die im Normalfall ohne größere Mühe erworben werden könnten. Die Befreiung der Staatsangehörigen bestimmter Drittstaaten müsse zudem nicht zur Inkohärenz der niederländischen Regelung führen, da die Richtlinie eine Privilegierung aufgrund bilateraler Übereinkünfte gestatte.
Die niederländische Regelung sei jedoch unverhältnismäßig und nicht mit der Richtlinie vereinbar, wenn die Integrationsprüfung auch in Situationen verlangt werde, in denen sie dem Nachzugswilligen unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage nicht zumutbar sei oder wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles Gründe vorlägen, die trotz nicht bestandener Prüfung eine Gestattung des Nachzugs erforderten.
Es sei Sache des Raad van State, diese Würdigung anzustellen und insbesondere zu prüfen, ob die bestehende Härtefallklausel es erlaube, diesen Belangen Rechnung zu tragen. Im Rahmen der Zumutbarkeit könnten neben dem Gesundheitszustand des Betroffenen, seinen kognitiven Fähigkeiten und seinem Bildungsstand auch Faktoren wie die Verfügbarkeit von ihm verständlichen Vorbereitungsmaterial, die anfallenden Kosten und die zeitliche Belastung von Bedeutung sein. Nicht in jedem Fall werde man etwa von einem Nachzugswilligen, der keiner der 18 Sprachen der Schulungsmaterialien mächtig sei, erwarten dürfen, sich zunächst eine der Schulungssprachen anzueignen, um dann mit deren Hilfe die eigentliche Prüfungsvorbereitung zu beginnen. Nach Ansicht von Generalanwältin Kokott steht die Richtlinie zudem nationalen Vorschriften entgegen, die eine Integrationsprüfung wie die hier in Rede stehende mit Gebühren verknüpften, wenn diese Gebühren und ihre Erhebung geeignet seien, den Nachzugswilligen an der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung zu hindern. Vorliegend sei diese Gefahr gegeben. Gebühren in Höhe von 350 Euro könnten in weiten Teilen der Welt in Anbetracht des dortigen Pro-Kopf-Einkommens eine beträchtliche finanzielle Belastung bedeuten. Damit könnten sie im Einzelfall ein unverhältnismäßiges Hindernis schaffen, das das mit der Richtlinie verfolgte Ziel sowie ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtige, zumal die Antrittsgebühren bei jedem Prüfungsversuch erneut anfielen. Abhilfe könnte in solchen Fällen u. a. durch Erlass- oder Stundungsmaßnahmen geschaffen werden. Ob und inwieweit dies nach niederländischem Recht möglich sei, werde der Raad van State zu prüfen haben.
Quelle: Presseerklärung des EuGH
Sevim Dagdelen, migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, nimmt die Stellungnahme der EuGH-Generalanwältin Kokott zum Anlass, erneut eine sofortige Rücknahme der Sprachhürden beim Ehegattennachzug zu fordern:
http://www.linksfraktion.de/pressemitteilungen/sprachhuerden-ehegattennachzug-sofort-beseitigen/