Nach Ansicht von Generalanwalt Wathelet in den verbundenen Rechtssachen (C-401/15, C-402/15 und C-403/15) kann ein Kind in einer „Patchworkfamilie“ in Bezug auf eine grenzüberschreitende soziale Vergünstigung als Kind des Stiefvaters angesehen werden. Das Abstammungsverhältnis ist in diesem Bereich nicht juristisch zu bestimmen, sondern wirtschaftlich, und zwar in dem Sinne, dass das Kind eines Stiefvaters, der Wanderarbeitnehmer ist, Anspruch auf eine soziale Vergünstigung haben kann, wenn der Stiefvater tatsächlich zum Unterhalt des Kindes beiträgt.
Nach luxemburgischem Recht können die Kinder von Grenzgängern, die in Luxemburg beschäftigt sind oder ihre Tätigkeit in diesem Land ausüben, eine Studienbeihilfe beantragen. Deren Gewährung setzt u. a. voraus, dass der Grenzgänger zum Zeitpunkt der Antragstellung seit mindestens fünf Jahren ununterbrochen in Luxemburg gearbeitet hat.
Frau Noémie Depesme, Herr Adrien Kaufmann und Herr Maxime Lefort leben in Patchworkfamilien, die jeweils aus ihrer genetischen Mutter und ihrem Stiefvater2 bestehen (der genetische Vater lebt entweder von der Mutter getrennt oder ist verstorben). Sie alle haben in Luxemburg aufgrund der Tatsache, dass ihr jeweiliger Stiefvater dort seit mehr als fünf Jahren ununterbrochen arbeitet, eine Studienbeihilfe beantragt. Dagegen arbeitet keine der Mütter in Luxemburg. Die luxemburgischen Behörden haben die Anträge mit der Begründung abgelehnt, dass Frau Depesme, Herr Kaufmann und Herr Lefort juristisch gesehen keine „Kinder“ eines Grenzgängers seien, sondern lediglich „Stiefkinder“.
Die drei Studierenden haben die Entscheidungen der luxemburgischen Behörden angefochten. Die mit der Sache befasste Cour administrative du Luxembourg (luxemburgischer Verwaltungsgerichtshof) möchte vom Gerichtshof wissen, ob im Bereich sozialer Vergünstigungen der Begriff „Kind“ auch Stiefkinder erfasst. Es geht mit anderen Worten darum, ob das Abstammungsverhältnis aus wirtschaftlicher statt aus rechtlicher Sicht betrachtet werden kann.
In seinen heutigen Schlussanträgen weist Generalanwalt Wathelet zunächst darauf hin, dass ein Arbeitnehmer aus einem Mitgliedstaat in jedem anderen Mitgliedstaat, in dem er arbeitet, nach einer Unionsverordnung die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen erhalten muss wie inländische Arbeitnehmer. Ferner stellt er fest, dass Kinder für den Bereich der Unionsbürgerschaft in der Richtlinie 2004/38 definiert sind als „die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das
21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird“. Der Generalanwalt sieht keinen Grund, weshalb diese Definition nicht auch bei sozialen Vergünstigungen im Rahmen der Verordnung zur Anwendung kommen sollte. Seines Erachtens kann unter der Familie eines Unionsbürgers nichts Anderes verstanden werden, wenn es um den Unionsbürger in seiner Eigenschaft als „Arbeitnehmer“ geht. So hat der Gerichtshof bereits in Bezug auf die Schulbildung von Kindern (die in den Anwendungsbereich derselben Verordnung fällt) entschieden, dass sowohl die Abkömmlinge eines Wanderarbeitnehmers als auch die seines Ehegatten Anspruch auf Zugang zum Schulsystem des Aufnahmemitgliedstaats haben. Außerdem hat der Unionsgesetzgeber selbst in einer unlängst erlassenen Richtlinie, die denselben Anwendungsbereich wie die fragliche Verordnung hat, die Einheitlichkeit des Begriffs „Familienangehörige“ in dem Sinne bestätigt, dass die Kinder des Ehegatten eines Grenzgängers als dessen „Familienangehörige“ anzusehen sind. Schließlich steht diese Auslegung nach Ansicht des Generalanwalts auch mit der Auslegung des durch die Charta der Grundrechte der EU und die Europäische Menschenrechtskonvention geschützten Begriffs „Familienleben“ im Einklang, wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zunehmend vom Kriterium des „Verwandtschaftsverhältnisses“ Abstand nimmt und die Möglichkeit „faktischer familiärer Beziehungen“ anerkennt.
Zur Veranschaulichung nennt der Generalanwalt das Beispiel einer Patchworkfamilie mit drei Kindern, von denen das erste ein Kind der Mutter ist, das zweite ein Kind ihres Partners und das dritte ein gemeinsames Kind dieses Paares. Wäre in diesem Beispiel allein die Mutter Grenzgängerin in Luxemburg, könnte sie, wenn der Begriff „Kind“ streng juristisch zu verstehen wäre, für ihr eigenes Kind und für das gemeinsame Kind eine Studienbeihilfe erhalten, nicht aber für das Kind ihres Partners, selbst wenn es beispielsweise seit seinem zweiten Lebensjahr in der Patchworkfamilie lebt. Daraus schließt der Generalanwalt, dass ein Kind, das rechtlich nicht mit dem Wanderarbeitnehmer verbunden ist, aber die Definition des „Familienangehörigen“ im Sinne der Richtlinie 2004/38 erfüllt, als Kind dieses Arbeitnehmers anzusehen ist und daher die in der Verordnung Nr. 492/2011 vorgesehenen sozialen Vergünstigungen beanspruchen kann.
Schließlich weist der Generalanwalt hinsichtlich des Umfangs, den der Beitrag des Wanderarbeitnehmers zum Unterhalt eines rechtlich nicht mit ihm verbundenen Studierenden haben muss, darauf hin, dass die Rechtsprechung, wonach sich die Eigenschaft als Familienangehöriger, dem Unterhalt gewährt wird, aus einer tatsächlichen Situation ergibt, auch auf den Beitrag eines Ehe- oder Lebenspartners zum Unterhalt seiner Stiefkinder Anwendung finden muss. Der Beitrag zum Unterhalt des Kindes kann demnach durch objektive Kriterien wie die Heirat, eine eingetragene Partnerschaft oder einen gemeinsamen Wohnsitz nachgewiesen werden, ohne dass es erforderlich wäre, die Gründe für die Inanspruchnahme dieser Unterstützung zu ermitteln oder ihren Umfang genau zu beziffern.