Mit der Entscheidung Dereci (EuGH Dereci) hat der Europäische Gerichtshof seine Rechtsprechungslinie zu Ruiz Zambrano (EuGH Ruiz Zambrano) und McCarthy (EuGH McCarthy) weiter entwickelt. Mit dem Urteil dürfte ein vorläufiger Endpunkt unter die Spekulation, weitreichende Rechte auf Familiennachzug könnten aus dem Unionsbürgerstatus nach Art. 20 AEUV abgeleitet werden, gesetzt worden sein. Die Entscheidung Ruiz Zambrano beruht auf einer besonderen Ausnahmesituation und kann nicht herangezogen werden, um aus der Unionsbürgerschaft eines Ehegatten einen Anspruch auf Familienzusammenführung für den drittstaatsangehörigen anderen Ehegatten abzuleiten.
Das Urteil Ruiz Zambrano beruht im Wesentlichen auf zwei Entscheidungen, die von dem EuGH kombiniert und verknüpft wurden: den Entscheidungen in den Rechtssachen Zhu und Chen (Urt. v. 19.10.2004 – C-200/02) sowie Rottmann EuGH Rottmann.
In der Rechtssache Zhu und Chen entschied der Gerichtshof, dass sich ein Unionsbürger bereits seit seinem Kleinkindalter auf die ihm unionsrechtlich gewährleisteten Rechte berufen kann, und dass es deshalb auch einem drittstaatsangehörigen Elternteil, der für den Unionsbürger tatsächlich sorgt, zu erlauben ist, sich im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers aufzuhalten. Während im Fall Zhu und Chen das Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils gegenüber dem Aufnahmestaat des Unionsbürgers geltend gemacht wurde und das Urteil daher die Ausübung der Freizügigkeit durch den Unionsbürger betrifft, sieht das Urteil Zambrano ein elterliches Aufenthaltsrecht im Herkunftsmitgliedstaat sogar dann vor, wenn es an einem grenzüberschreitenden Bezug fehlt und das Kind, dessen Unionsbürgerschaft maßgeblich ist, sich nach wie vor in dem Mitgliedstaat aufhält, dessen Staatsbürgerschaft es innehat.
Das Urteil Ruiz Zambrano bezieht sich außerdem ausdrücklich auf das Urteil Rottmann. Darin ging es um einen Unionsbürger, der durch Rücknahme seiner Einbürgerung Gefahr lief ein Staatenloser zu werden. Herr Rottmann hatte von seinem Recht auf Freizügigkeit nicht mehr Gebrauch gemacht, nachdem er in Deutschland eingebürgert worden war. Das Urteil Rottmann befand, dass die Situation eines Unionsbürgers, der durch die Rücknahme seiner Einbürgerung „in eine Lage versetzt wird, die zum Verlust des durch Artikel 17 EG (heute: Art. 20 AEUV) verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte führen kann, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt" (Rn. 42).
Das Urteil Zambrano zieht nun diese beide Ideenstränge zusammen: Das aus der Unionsbürgerschaft abgeleitete elterliche Aufenthaltsrecht im Herkunftsmitgliedstaat der minderjährigen Unionsbürger beruht nämlich darauf, dass diese andernfalls ,,gezwungen sind, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten".Mit der Rechtssache Dereci stellt der EuGH klar, dass abgeleitete Aufenthaltsrechte auf Ausnahmesituationen beschränkt sind. Wie bereits in den Rechtssachen Ruiz Zambrano und McCarthy entschieden wurde, sind Sachverhalte, die einen Staatsbürger eines Mitgliedstaates und seinen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen in gerade diesem Mitgliedstaat betreffen, grundsätzlich als interne Sachverhalte anzusehen, die nicht vom Unionsrecht erfasst sind. Das Unionsrecht greift bei solchen Sachverhalten nur unter besonderen Umständen ein, nämlich dann wenn eine nationale Maßnahme zur Folge hätte, dass der Betroffene seiner aus der Unionsbürgerschaft rührenden Rechte verlustig gehen könnte. Dabei ist es unerheblich, ob diese Gefahr rechtlicher (durch die Ausbürgerung, wie im Fall Rottmann) oder tatsächlicher Natur (durch den Zwang der Kinder, ihren Eltern aus der Union zu folgen, wie im Fall Zambrano) ist.
In der Rechtssache Dereci hebt der Gerichtshof die tatsächliche Beeinträchtigung des Gebrauchmachens der Rechte als Unionsbürger hervor, indem er ausführt, „dass sich das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, auf Sachverhalte bezieht, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, zu verlassen, sondern das Gebiet der Union als Ganzes" (Rn. 66).
Weiter führt er aus: „Diesem Kriterium kommt somit insofern ein ganz besonderer Charakter zu, als es Sachverhalte betrifft, in denen – obwohl das das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen betreffende abgeleitete Recht nicht anwendbar ist – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Staatsbürgers eines Mitgliedstaats ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft der letztgenannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde (Rn. 67). Infolgedessen rechtfertigt die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsbürger eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (Rn. 68)."Damit steht fest, dass die vorübergehende Trennung von Ehegatten, etwa zur Durchführung eines Visumverfahrens, niemals geeignet ist, den Kernbereich des Unionsbürgerrechts zu beeinträchtigen. Auch eine länger andauernde Trennung der Ehegatten infolge einer Ausweisung des Ehegatten führt nicht zu einer unzulässigen Beeinträchtigung des Kernbereichs des Unionsbürgerrechts nach Art. 20 AEUV. Denn in diesen Fällen wird es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den der EuGH in der Rechtssache Rottmann betont hatte, genügen, wenn der straffällige Ehepartner längere Zeit vom Bundesgebiet fern gehalten wird. Die Trennung der Ehegatten beruht insoweit auf einer autonomen Entscheidung des Unionsbürgers, dem es frei steht, sich zwischen der Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft oder dem Gebrauchmachen der Unionsbürgerrechte zu entscheiden.
Problematisch bleiben damit allein Fälle, in denen – wie in der Rechtssache Ruiz Zambrano – minderjährige Unionsbürger von einem drittstaatsangehörigen Elternteil getrennt werden. In derartigen Fällen wird aber in der Regel ein Elternteil im Bundesgebiet verbleiben, um dem Unionsbürger die Ausübung seiner Unionsbürgerrechte zu ermöglichen. Ist außer dem ausgewiesenen Elternteil kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhältig, scheidet unabhängig von einer drohenden Beeinträchtigung des Kernbereichs des Unionsbürgerrechts eine Ausweisung ohnehin schon wegen einer Verletzung des Art. 6 GG aus.