Der Europäischer Gerichtshof hat am 19. Februar 2009 In der Rechtssache C-228/06 (Soysal) eine wichtige Grundsatzentscheidung zur visafreien Einreise von türkischer Staatsangehöriger getroffen. Aus der Entscheidung ergibt sich nicht, dass nunmehr das Visaverfahren für türkische Staatsangehörige gänzlich entfällt. Insbesondere bleibt auch der Familiennachzug visapflichtig. Dennoch könnte die Entscheidung unerwartet auch im Bereich des Familiennachzugs Bewegung gebracht haben.
Grundlage für ein Wegfall der Sprachanforderungen könnte die Ausnahmeregelung des § 30 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 AufenthG sein, wonach für den Ehegatten die Sprachprüfung entfällt, wenn der in Deutschland lebende Ehegatte auch für einen Aufenthalt, der kein Kurzaufenthalt ist, visumfrei in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf.
Die entscheidende Frage lautet:
• Ist die Privilegierung davon abhängig, dass der im Bundesgebiet lebende Ausländer unabhängig von dem angestrebten Aufenthaltszweck zu einem längerfristigen Aufenthaltszweck visafrei einreisen darf?
• oder ist es ausreichend, wenn der Staatsangehörige nur für einen Aufenthaltszweck für einen Aufenthalt, der kein Kurzaufenthalt ist, visafrei in das Bundesgebiet einreisen darf?
Da alle nach § 41 Abs. 1 und 2 AufenthV begünstigen Ausländer erfasst werden sollen, spricht Einiges dafür, dass nur abstrakt geprüft wird, ob überhaupt eine längerfristige visumfreie Einreise möglich ist. Ob der damit verbundene Aufenthaltsstatus auch einen Nachzug ermöglichen muss, wird wohl nicht gefordert. Denn Staatsangehörige, die unter § 41 Abs. 2 AufenthV fallen und zu denen der Nachzug ohne Sprachprüfung möglich ist, dürfen – mit kleinen Ausnahmen – keine Erwerbstätigkeit ausüben. Der Nachzug würde daher idR an der fehlenden Lebensunterhaltsdeckung scheitern.
Kommt es aber auf eine abstrakte Sichtweise an, dann ist der Nachzug zu einem türkischen Staatsangehörigen ohne Sprachprüfung möglich. Dies gilt unabhängig davon, welche Staatsangehörigkeit der Ehegatte hat.
Die Vorschrift des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls führt dazu, dass für die Beurteilung der Einhaltung der Einreisebestimmungen durch türkische Staatsangehörige die Rechtslage des Ausländergesetzes im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls, d.h. am 01.01.1973, zugrunde zu legen ist, sofern diese günstiger ist. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG vom 10.09.1965 (BGBl. I S. 1341) in der Fassung vom 13.09.1972 (BGBl. I S. 1743 – im folgenden: DVAuslG 1965) benötigten türkische Staatsangehörige, die entsprechend der Positivliste von der Sichtvermerkspflicht grundsätzlich freigestellt waren, nur dann vor der Einreise einen Sichtvermerk, wenn sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Für sonstige Aufenthalte bestand ohne zeitliche Begrenzung grundsätzlich keine Visumspflicht, da diese erst durch die 11. Änderungsverordnung zur DVAuslG vom 01.07.1980 (BGBl. I S. 782) auch für türkische Staatsangehörige eingeführt wurde. Dabei konnte die Sichtvermerkspflicht im Hinblick auf die noch erforderliche Kündigung der deutsch-türkischen Sichtvermerksvereinbarung von 1953 erst am 5.10.1980 in Kraft treten.
Nach der damaligen Verwaltungsvorschrift zum AuslG sind die Fälle, in denen die Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks einzuholen ist, in § 5 DVAuslG aufgeführt. In anderen Fällen kann die Aufenthaltserlaubnis nach der Einreise eingeholt werden. Damit konnten türkische Staatsangehörige visafrei einreisen, sofern keine Erwerbstätigkeit aufgenommen werden sollte. Sie mussten nach der Einreise nur dann einen Aufenthaltstitel beantragen, wenn keine Ausnahmeregelung des § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 ihren Aufenthalt erfasste.
Die generelle Beschränkung des visafreien Aufenthalts auf einen Zeitraum von drei Monaten ist gleichfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich durch die 14. Änderungsverordnung zur DVAuslG vom 13.12.1982 (BGBl. I S. 1681) eingeführt worden; sie gilt demnach gleichfalls nicht für türkische Staatsangehörige, die sich auf die Standstill-Klausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzabkommens berufen können.
Für Dienstleistungserbringer, die über Art. 41 Zusatzprotokoll immer noch begünstigt sind, gilt, dass diese ohne Visum einreisen durften und nach der Einreise nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG eine Aufenthaltserlaubnis beantragen mussten, wenn sie „sich im Dienst eines nicht im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ansässigen Arbeitgebers zu einer ihrer Natur nach vorübergehenden Dienstleistung als Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Ausländergesetzes aufhalten, sofern die Dauer des Aufenthalts zwei Monate nicht übersteigt.“ Die Befreiung galt nicht für Ausländer, die im Geltungsbereich des Ausländergesetzes ein Reisegewerbe (§ 55 der Gewerbeordnung) ausüben wollten.
Können türkische Staatsangehörige aufgrund der Standstillklausel des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll zum Zwecke der Entgegennahme von Dienstleistungen ohne zeitliche Begrenzung des geplanten Aufenthalts visumfrei einreisen, so erfüllen sie die Ausnahmeregelung des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 AufenthG mit der Folge, dass der Nachzug ihrer Familienangehörigen nicht von einer Sprachprüfung abhängig gemacht werden darf. Jedenfalls dann nicht, wenn die Ausnahmeregelung auch Staatsangehörige erfasst, die – wie türkische Staatsangehörige – nur in einem Segment von der Visapflicht für längerfristige Aufenthalte begünstigt sind.