Berlin - Das Auswärtige Amt hat offenbar ebenso wie wohl die Grüne Partei den Schneeball-Effekt der Visa-Affäre, die mit einem spektakulären Schleuser-Urteil des Kölner Landgerichts vor einem Jahr ihren Anfang nahm (Migrationsrecht.net berichtete, vgl. diese News), möglicherweise unterschätzt. Inzwischen arbeiten zwei Arbeitsstäbe im Innen- und im Außenministerium und stellen Akten für den Ausschuss zusammen. Das erste Opfer - manche mögen es Bauernopfer nennen - unter den Grünen ist Ludger Volmer, der Namenspatron des streitigen Runderlasses: er trat schon am Wochenende zurück.
Im Mittelpunkt des nunmehr eingesetzten Untersuchungsausschusses zum Visa-Missbrauch steht ein von Ludger Volmer als dem damaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt angeregter Runderlass vom 3. März 2000, der zwischenzeitlich vom so genannten Chrobog-Erlass abgelöst wurde. Mit dessen streitgegenständlichem Vorgänger wurde der Ermessensspielraum der Konsularbeamten bei der Visa-Vergabe erweitert. Außenminister Joschka Fischer (Grüne) unterzeichnete das Dokument; dort heißt es auch: "Nach umfassender Überprüfung unserer Visumpraxis hat Bundesminister Fischer Weisung erteilt, das Verfahren der Visumerteilung zu verbessern und wesentliche Grundsätze unseres Visumverfahrens zu bekräftigen." Weiter war darin unter anderem die Rede von größtmöglicher Reisefreiheit; dies las sich wie folgt: "Wenn sich nach [...] Abwägung [...] des Einzelfalls die tatsächlichen Umstände, die für und gegen eine Erteilung des Besuchsvisums sprechen, die Waage halten, gilt: in dubio pro libertate - im Zweifel für die Reisefreiheit. [...] Wird im Rahmen des Visumverfahrens für einen Kurzaufenthalt bis zu drei Monaten eine Verpflichtungserklärung vorgelegt, bei der die Ausländerbehörde nur die Unterschrift des sich Verpflichtenden beglaubigt, aber keine ausdrückliche Stellungnahme zu seiner finanziellen Leistungsfähigkeit abgegeben hat, so soll die Auslandsvertretung in der Regel auf die Vorlage von Unterlagen zur Glaubhaftmachung der Bonität des Einladenden verzichten."
Gestern hatte sich Bundesaußenminister Joschka Fischer nach der Rückkehr von seiner Reise nach Australien, Neuseeland, Ost-Timor, Malaysia und Indonesien erstmals zur Sache erklärt. Gegenüber den ARD-Tagesthemen wies er die Kritik aus den Reihen der Opposition in die Schranken: "Der entscheidende Punkt für Kiew sind Reiseschutz-Verfahren und auch Reisebüro-Verfahren, die von der Vorgänger-Regierung entwickelt wurden. Hier gibt es einen direkten Zusammenhang mit der Vorgänger-Regierung die dem Ausschuss darstellbar sind."
Diese Aussage ist allerdings tendenziös. Das carnet de touriste, eine Versicherung für Visa-Bewerber, die das bisherige Bürgschaftssystem ablöste, war in der Tat von der Regierung Kohl eingeführt worden. Jedoch war es in seinen wesentlichen Elementen im Oktober 1999 unter rot-grüner Regierungsverantwortung verändert worden. Hans Jessen kommentierte dies mit den Worten: "Die Schutzversicherung schütz[t]e nun vor Nachprüfung." Auch nach dieser Regelung war zwar eine Standardüberprüfung im Ausländerregister vorgesehen, in deren Rahmen strafrechtliches Inerscheinungtreten und ähnliches abgefragt werden sollten, Kriterien wie Reiseziel, Hotelbuchung und Rückkehrwille wurden jedoch von der weiteren Kontrolle ausgenommen. Ein halbes Jahr später kam, wie gesehen, der Vollmer-Erlass.
Ebenso tendenziös sind allerdings auch Vorwürfe, die Grünen hätten mit Fischers Amtsantritt die Gunst der Stunde genutzt, ihre "Multikulti"-Attitüde in Einreisepolitik zu gießen, wie aus der Opposition zu vernehmen war.
Zu dem gesamten Problemkreis soll Außenminister Fischer nun vor dem Untersuchungsausschuss gehört werden. Nachdem nunmehr absehbar ist, dass sich die Arbeit des Ausschusses bis ins Wahljahr 2006 erstrecken wird, ist bereits ein unwürdiges Gerangel darum im Gange, ob es strategisch günstiger wäre, Fischer früher oder später zu laden - je nach Sicht der betroffenen Partei -. Außenpolitisch gerät die Regierung Schröder nun auch wegen der Äußerungen des Bundeskanzlers zu einer möglichen NATO-Reform unter Druck.
Der Ton der Auseinandersetzung zwischen der Opposition und der Regierung hat sich auch in der zweiten Reihe verschärft. Volmer geht offenbar juristisch gegen die harsche Kritik der Union vor. Der Obmann der Union im Ausschuss, Eckart von Klaeden, soll eine Unterlassungserklärung abgeben und seine Behauptung: "Herrn Volmer umgibt der Modergeruch der Korruption", nicht wiederholen. Klaeden wies das Ansinnen zurück und sagte, der Schritt zeige, wie groß die Nervosität sei. Tatsächlich war am Wochenende in Medienberichten die Rede davon, dass die Grünen begönnen, Zweifel daran zu hegen, ob sie früh genug und adäquat auf die Entwicklungen in der Sache reagiert hätten.
Nachdem der Chrobog-Erlass bereits eine Verschärfung der Regeln über die Visa-Erteilung beinhaltete, steht zu befürchten, dass es seitens der Regierung im Nachgang der Affäre als besonders opportun angesehen wird, die Einreise nach Deutschland weiter zu erschweren. Auf Multikulturalität und die wirtschaftlichen Impulse von Migration wird Deutschland also auch weiterhin in erheblichem Maße verzichten müssen.