Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Standstill-Klauseln des Assoziierungsabkommens der Europäischen Unionmit der Türkei. Antwort der Bundesregierung Drucksache 17/5884 vom 23.05.2011.
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Auszüge:
Vo r b e m e r k u n g d e r B u n d e s r e g i e r u n g
zur Reichweite des Verschlechterungsverbots in Artikel 13 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB) 1/80:
Artikel 13 ARB 1/80 verbietet die Einführung neuer Beschränkungen „für den Zugang zum Arbeitsmarkt“ (sachlicher Schutzbereich).
Unter den persönlichen Schutzbereich von Artikel 13 ARB 1/80 fallen „Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen“. Der Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, der dem ARB 1/80 generell wie auch dem Verschlechterungsverbot in dessen Artikel 13 innewohnt, wird von keiner Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Abrede gestellt. Er wird auch in dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2010, Az. 1 C 8.09, anerkannt (dort Rn. 20).
Zwar ist zu beobachten, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung wiederholt eine weite Auslegung des Verschlechterungsverbots in Artikel 13 ARB 1/80 vorgenommen hat. So hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Artikel 13 auch den erstmaligen Zugang zum Arbeitsmarkt betreffe und nicht voraussetze, dass der türkische Staatsangehörige bereits in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integriert ist (Urteil vom 21. Oktober 2003, RS C-317, 369/01 – Abatay, dort Rn. 80 f., 83 f.).
Ferner hat er ausgeführt, dass die Vorschrift neuen Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit entgegenstehe, die die materiell- und/ oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten betreffen, die dort von dieser Freiheit Gebrauch machen wollen (Urteil vom 17.9.2009, RS C 242/06 – Sahin, dort Rn. 64 f.; Urteil vom 29. April 2010, RS C-92/07 – Kommission ./. Niederlande, dort Rn. 49). Die Begrenzung des sachlichen Schutzbereichs von Artikel 13 ARB 1/80 auf Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der EuGH in seiner Rechtsprechung jedoch nicht aufgehoben. Dies gilt auch für das Urteil vom 9. Dezember 2010 in der RS C 300, 301/09 – Toprak, in dem der Gerichtshof einer Regelung des niederländischen Rechts, die die Bedingungen für den Erwerb eines eigenständigen Aufenthaltsrechts ausländischer Ehegatten betraf, unter dem Aspekt entgegentrat, dass von dieser Regelung einschränkende Auswirkungen auf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an türkische Arbeitnehmer ausgingen (dort Rn. 41 bis 44). Seine Aussage im Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86 – Demirel –, wonach das Assoziationsrecht zum Bereich der Familienzusammenführung als solchem keine Festlegungen treffe (Rn. 22, 24), hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bis heute nicht revidiert. Dass Artikel 13 ARB 1/80 auch Familienangehörige türkischer Arbeitnehmer in seinen persönlichen Schutzbereich einschließt und sie vor neuen Beschränkungen des Zugangs zum Arbeitsmarkt schützt, steht hierzu nicht in Widerspruch.
Zu der Frage, ob Regelungen zum Sprachnachweis im Ehegattennachzug und zur Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Sinne von Artikel 13 ARB 1/80 darstellen können, hat sich der EuGH bislang nicht geäußert. Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung derzeit keine Veranlassung, die Frage zu problematisieren, ob die entsprechenden Regelungen des deutschen Aufenthaltsgesetzes dem Verschlechterungsverbot des Artikels 13 ARB 1/80 unterfallen könnten. Würde diese Frage Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH werden, würde die Bundesregierung im Falle ihrer Beteiligung nach heutigem Stand die Auffassung vertreten, dass es sich bei den genannten Regelungen nicht um Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit handelt.
Die Bundesregierung sieht es nicht als ihre Aufgabe an, ihre vorgenannten Schlussfolgerungen aus der textlichen Fassung des ARB 1/80 sowie aus der Rechtsprechung des EuGH fortlaufend zum Anlass von Detailstellungnahmen zu einzelnen Äußerungen oder Argumenten juristischer Autoren oder aus dem politischen Raum zu machen und insofern in einen juristischen Fachdisput einzutreten, zumal die Rechtsanwendung in den Feldern, in denen diese Schlussfolgerungen zum Tragen kommen könnten, überwiegend den Ländern obliegt.