Visa-Affaire: Fischer, Untersuchungsausschuss, Schleuserkriminalität

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BERLIN - Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) hat am gestrigen Montag von 10.01 bis 22.32 Uhr vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages zur Frage der umstrittenen Visa-Erlasse ausgesagt. In der mit Spannung erwarteten Aussage des Ministers übernahm dieser die volle Verantwortung und räumte ein, auf die Missstände in Kiew verspätet reagiert zu haben, nachdem er das Problem zunächst nur im Personalbedarf gesehen habe. Fischer weist jedoch auf die Kontinuität der Visapolitik und ihrer Instrumente hin, die schon unter der Kohl-Regierung bestanden haben. Er wirft der Opposition eine ?unsägliche Skandalisierung? der Geschehnisse vor.

Volle Ministerverantwortung

Fischer stellte von Anfang an klar, dass er als Minister die volle politische Verantwortung für die Geschehnisse im Auswärtigen Amt übernehme. ?In dem Moment, in dem ich meine Paraphe unter den Erlass setze, ist es mein Erlass?, sagte der Außenminister und beendete damit die Spekulationen darüber, von wem die Formulierung des angegriffenen ?in dubio pro libertate? (lat. Im Zweifel für die [Reise-]Freiheit) im sog. ?Volmer-Erlass? vom 3. März 2000 erstmals vorgeschlagen worden war.

Der "Fischer-Volmer-Erlass"

Fischer nahm eingehend dazu Stellung, dass in der politischen Diskussion stets nur der eine Satz ?Im Zweifel für die Reisefreiheit? aus dem Erlass genommen werde, ohne dass man den Erlass als solchen betrachtete. Denn schon in der Einleitung sei in dem Erlass klargestellt, dass das geltende Ausländerrecht, die Regelungen des Schengen-Acquis und die gemeinsamen konsularischen Instruktionen der Schengen-Staaten den Rahmen für jede Entscheidung absteckten. Von einem ?kalten Putsch? der Regierung und einer Unterwanderung der parlamentarischen Beteiligung an der Visapolitik könne deshalb keine Rede sein. Ferner habe der Erlass vom 3. März 2000 vorgesehen, dass zunächst die absoluten Versagungsgründe bei der Erteilung eines Visums berücksichtigt werde mussten, dann die Regelversagungsgründe. In diesen Fällen habe kein Ermessen bestanden und der Zweifelsgrundsatz nie Anwendung gefunden. Nur in davon nicht erfassten Fällen sollte im Zweifel für die Reisefreiheit entschieden werden, wenn sich Zweifel nicht ausräumen ließen. Insofern habe das Herausgreifen des Zweifelsgrundsatzes aus dem Gesamtkontext zu einer erheblichen Verfälschung seines sachlichen Bedeutungsgrades geführt.

Darüber hinaus führte Fischer aus, dass er bei der Vorbereitung auf die gestrige Befragung erstaunt festgestellt habe, dass es von der Vorgängerregierung einen ?Leitfaden zur Visumsvergabe? aus dem Jahre 1993 gebe, in dem es heißt ?Bei der Entscheidung, ob ein Visum erteilt wird, ist vom Ermessen positiv zu Gunsten des Antragsstellers Gebrauch zu machen.? Auch bezüglich dieses Leitfadens sei es damals zu Remonstrationen wie beispielsweise seitens der Botschaft Kiew gekommen.

Der Außenminister betonte, dass es ihm in keiner Weise auf eine Abschiebung von Verantwortung auf die alte Regierung ankomme. Es gehe ihm aber darum, auf die vorhandene Kontinuität in der Praxis hinzuweisen und darum, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen werde.

Inhaltlich verteidigte Fischer den Volmer-Erlass, den er aufgrund seiner ministeriellen Verantwortung ?Fischer-Erlass (I)? nennen wolle, da er sowohl außen- wie auch innenpolitisch richtig gewesen wäre. Fischer betonte, dass gerade aus innenpolitischer Sicht die Schaffung von wie er sagte ?schwarzen Löchern, die sich nicht entwickeln? von großer Gefahr gewesen wären. Fischer wies eindringlich auf die Bedeutung der Reisefreiheit für die Veränderung von Gesellschaften im Allgemeinen und für das Gelingen der sog. orangenen Revolution in der Ukraine im Besonderen hin. Das mit weitergehenden Freiheiten auch ?unschöne Dinge? verbunden seien, womit Fischer anscheinend auf erhöhte Missbrauchszahlen und dadurch eine mögliche Begünstigung von Schleuserkriminalität und Zwangsprostitution anspielte, sei ein ungewollter Nebeneffekt gewesen. Fischer wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass jedes einzelne Schicksal einer Zwangsprostitution eines zu viel sei. Gleichwohl sei allenfalls die Gefahr eines ?nicht substantiellen Anstiegs der illegalen Einwanderung? zu befürchten gewesen. Auch seien die von der Opposition oftmals genannten Missbrauchsdaten rein politische Zahlen, die durch keine Statistik bestätigt werden. Es gehe allenfalls um ein paar Tausend Personen, keineswegs um Millionen.

Reisebüroverfahren vernünftig

Auch das Reisebüroverfahren, bei dem ein Reisebüro die Beantragung des Visums übernimmt, ohne dass eine direkte Vorsprache bei den Behörden erforderlich ist, sei nach Fischer vernünftig; gerade in Zeiten zunehmender Globalisierung und großer Touristenströme. Es sei allerdings eine intensive Kontrolle notwendig und setze die Vertrauenswürdigkeit der Counterparts voraus, so Fischer.

In Kiew habe es dagegen ein kriminelles Netzwerk gegeben, dass mit gefälschten Reiseplanungen und Hotelreservierungen die Möglichkeiten dieses Systems mit viel krimineller Energie missbraucht habe.

Bonitätsprüfung undurchführbar

Bezüglich der Prüfung der finanziellen Leistungsfähigkeit (Bonität) von Personen, die aus Deutschland heraus andere Menschen eingeladen und damit eine Art finanzieller Garantie dafür übernommen haben, dass die eingeladenen ?Gäste? dem deutschen Steuerzahler nicht zur Last fallen, wies Außenminister Fischer auf Berichte und Schreiben wie der Landesregierung Baden-Würtemberg hin, nach denen die Innenbehörden mit der massenweisen Überprüfung von Einladern überfordert seien. Es sei deshalb faktisch nicht möglich gewesen, dieses Verfahren stets ordnungsgemäß durchzuführen, dies habe aber nicht stets zu Lasten der Antragssteller gehen können, weshalb der Bonitätserlass vom 2. September 1999 erforderlich gewesen sei.

Reiseschutzpässe: Fatale Folgen mangels Bonitätsprüfung

Das dritte und wahrscheinlich umstrittenste Instrument der Visapolitik waren die Reiseschutzpässe, mit denen eine Versicherung abgeschlossen werden konnte, die für etwaige Kranken- oder Rückreisekosten des Reisenden einspringen sollte, wenn dieser hierzu keine eigenen Mittel hatte. Dieses Instrument sei bereits seit 1994 von dem damaligen Außenminister Kinkel eingeführt und später zum ?Carnet de Touriste? weiterentwickelt worden. Von Anfang an habe es ?auch schon unter der Vorgängerregierung- Remonstrationen von Seiten der Botschaften gegeben, dass es zu Visaerschleichungen und ähnlichem gekommen sei.

Zu fatalen Folgen sei es allerdings nur gekommen, nachdem dieses Verfahren in Verbindung mit dem Verzicht auf die Bonitätsprüfung ausgenutzt worden sei.

Fischers Fehler: Verkennung des Problems

Fischer, der angab, im Sommer 2000 anlässlich seines Besuchs in Kiew von den Problemen erfahren zu haben, räumte ein, dass sein Fehler darin bestanden habe, zunächst nur ein Ressourcenproblem gesehen zu haben und die aufgetretenen Probleme durch eine verstärkte personelle Besetzung im konsularischen Bereich beheben zu wollen. Fischer gab offen zu, dass es sein Fehler gewesen sei, auf die Missstände in Kiew nicht früh genug und nicht schnell genug eingeschritten zu sein. ?Diesen Fehler muss ich mir vorhalten lassen?, ?Dafür stehe ich gerade? sagte Fischer. Nachdem er dies erkannt habe, sei jedoch ein Frühwarnsystem gegen Visamissbrauch eingeführt worden.

Fragerunden im Ausschuss

In der an Fischers zweieinhalbstündige Stellungnahme anschließenden Befragung durch den Untersuchungsausschuss unter dem Vorsitz von Hans-Peter Uhl (CSU), die mit kurzen Unterbrechungen bis 22.32 Uhr andauerte, konnten dem Außenminister keine skandalösen Erkenntnisse abgewonnen werden. Fischer reagierte oftmals angriffslustig und zum Teil recht schroff auf die Fragen der Abgeordneten. Manche Fragen wusste er nicht zu beantworten. Er wehrte sich gegen die ?unsägliche Skandalisierung? durch die Opposition, die parteipolitisch motiviert sei und kein Interesse an einer Sachaufklärung habe.

Fischer hat mehrmals unterstrichen, dass es infam sei, das Urkainische Volk stets mit Kriminellen und Verbrechern gleichzusetzen. Auch könne es nicht Ziel deutscher Visapolitik sein, nur die Eliten reisen zu lassen. Die Reisefreiheit müsse auch für diejenigen bestehen, die ein geringes Einkommen haben und davon träumen, nach Berlin, London und Paris zu reisen.

Insofern ist dem Bundesaußenminister zuzustimmen. Auch Missbrauchsfälle und das schlimme Los von geschleusten Menschen dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass mit der Reisefreiheit auch viel Gutes getan wurde. Gerade im Ausländerrecht (was im Übrigen aber auch für den Bereich der Sozialhilfe gilt) führen medienwirksame Missbrauchsfälle schnell zur pauschalierten Bewertung von großen Gruppen. Ohne die Probleme, die durch die Missbräuche entstanden sind, schön reden zu wollen, muss auch bedacht werden, dass die Einschränkung der lange und hart verdienten Reisefreiheit der Völker im Osten Europas nicht ohne weiteres und nur aufgrund einer ungewissen Ahnung über die Ausmaße von (verstärkter) Zwangsprostitution und Schleuserkriminalität eingeschränkt werden konnte.

 

Daniel Naujoks