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Abschiebung illegaler Einwanderer ? Europarat verabschiedet 20 Leitlinien

STRASSBURG - Am 11.05.2005 hat das Ministerkomitee des Europarates Leitlinien für die Abschiebung von Ausländern verabschiedet. Die sechsundvierzig Mitgliedsstaaten zeigen sich über das Risiko besorgt, dass es im Kontext mit Zwangsabschiebungen zu Verletzungen von Grundrechten und ?freiheiten kommt. Die Leitlinien legen dabei Standards für alle Stufen des Verfahrens von der Abschiebungsverfügung, über die Voraussetzungen und Lebensbedingungen während der Abschiebehaft und die Durchführung der Zwangsabschiebung fest, die jedoch selber nicht verbindlich sind, sondern nur bestehende völkerrechtliche Pflichten zusammenfassen, bzw. unverbindliche Vorschläge für eine zu etablierende Praxis darstellen.

Die Leitlinien sind eine Antwort auf die jüngsten Todesfälle bei Ausweisungen, wie sie die Parlamentarische Versammlung des Europarates im Jahre 2002 festgestellt hatte. Darüber hinaus waren im Laufe der letzten Monate zunächst die gemeinsame Abschiebeaktion mehrerer europäischer Staaten und im April 2005 die Zwangsabschiebungen der italienischen Regierung international kritisiert worden. Auch künftig steht die Abschiebung von abgewiesenen Ayslbewerbern oben auf der Tagesordnung der europäischen Staaten. Erst am 13. Mai 2005 hat die niederländische Integrationsministerin Rita Verdonk erklärt, das Regierungskabinett habe ihrem Plan zugestimmt, arbeitslose Einwanderer aus den niederländischen Antillen massenweise auszuweisen und abzuschieben, um die niederländische Arbeitslosenversicherung zu entlasten.
Vor diesem Hintergrund ist die Verabschiedung von Leitlinien durch den Europarat sehr zu begrüßen. Der Europarat ist eine aus sechsundvierzig Staaten bestehende internationale Organisation mit Sitz in Straßburg, die nicht unerheblichen Einfluss, wenn auch keine Durchsetzungsmechanismen gegenüber den Mitgliedsstaaten hat.
Die nunmehr verabschiedeten Leitlinien stellen den ersten internationalen Text dar, der alle Stufen des Abschiebungsverfahrens von der Feststellung eines illegalen Aufenthalts bis hin zur Abschiebung selbst berücksichtigt. Diese Leitlinien sollen dabei nicht nur die Standards des Europarats und die anwendbaren Leitprinzipien wiedergeben, sondern auch die best mögliche Praxis aufzeigen und damit nationalen Regierungen bei der Erstellung von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften eine Hilfestellung geben. Allerdings führen die verabschiedeten Leitlinien nicht zu neuen Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten, weshalb der Text nicht als verbindlicher, völkerrechtlicher Vertrag zu verstehen ist. Zum Teil fassen die Leitlinien bestehende Verbindlichkeiten zusammen, so dass sie für die Auslegung anderer Abkommen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) herangezogen werden können; zum Teil gehen die Leitlinien über existierende Pflichten hinaus und zeigen einen Sollzustand als best mögliche Praxis.
Als ersten Grundsatz konstatieren die Leitlinien den Vorrang der freiwilligen Ausreise und Rückkehr vor der Zwangsabschiebung. Staaten sollen deshalb ihre auf Rückkehr gerichteten Programme regelmäßig evaluieren und verbessern.
Das zweite Kapitel der Leitlinien ist der Erteilung einer Ausweisungsverfügung gewidmet. Eine solche soll ?was der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) entspricht- nicht ergehen, wenn ein reales Risiko besteht, dass der ausgewiesenen Person im Heimatstaat die Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedriegende Behandlung droht. Dies gilt auch, wenn diese Bedrohung von einer nicht-staatlichen Gruppe ausgeht, sofern der Heimatstaat nicht in der Lage oder nicht willens ist, geeigneten und effektiven Schutz zu gewähren.
Für den Fall, dass der Staat, in den die Abschiebung erfolgen soll, nicht der Herkunftsstaat des Migranten ist, soll eine Abschiebung auch unterbleiben, wenn die Gefahr besteht, dass dieser Staat den Migranten in ein drittes Land weiterschiebt, in dem die genannten, schwerwiegenden Risiken bestehen. Dies kann inbesondere hinsichtlich der Gespräche zwischen der EU und Lybien von Bedeutung sein. Einige europäische Staaten wollten mit Lybien über die Errichtung von Auffang- und Sammellagern verhandeln, in die nach dem Leitlinien-Punkt 2.3 nicht abgeschoben werden könnte. Allerdings hat Großbritannien bezüglich des Punktes 2, wie auch hinsichtlich der Punkte 4, 6, 7, 8, 11 und 16, einen Vorbehalt erklärt, demnach es sich an diese Bestimmungen nicht gebunden sieht.
Leitlinie 3 verbietet die kollektive Abschiebung, da derartige Entscheidungen nur einzelfallbezogen und unter Berücksichtigung aller Umstände getroffen werden sollen. Jeder, der von einer Abschiebung betroffen ist, muss bei einer unparteiischen und unabhängigen Stelle ein effektives Rechtsmittel gegen die Abschiebungsentscheidung einlegen können (Leitlinie 5.1). In diesem Prozess müssen wesentliche Verfahrensgarantien gewährleistet sein, und die zuständige Stelle muss die Möglichkeit haben, die Vollstreckung der Abschiebung vorläufig auszusetzen. Die zeitweilige Aussetzung, der sog. Suspensiveffekt, soll stets zum Tragen kommen, wenn der oder die Betroffene fundiert behauptet, seine oder ihre Menschenrechte seien gefährdet.
Das dritte Leitlinienkapitel betrifft die hochproblematische Frage der Abschiebehaft. Richtline 6 bestimmt, dass die Inhaftierung zum Zwecke der Vollstreckung der Abschiebung nur gerechtfertigt sein könne, wenn es eine gesetzlich vorgesehenes Verfahren gebe und nachdem die Notwendigkeit der Haft in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft worden ist. Dies setzt voraus, dass die Durchsetzung der Ausweisungsverfügung nicht durch andere Maßnahmen wie Überwachungssysteme, die Pflicht zur regelmässigen Meldung bei den Behörden, eine Kaution oder durch andere Garantiesysteme sichergestellt werden kann.
Jede Abschiebehaft soll so kurz wie möglich sein (Leitlinie 8), und es sollen regelmäßig gerichtliche Haftprüfungen durchgeführt werden. Insbesondere muss jede in Abschiebehaft genommene Person in ihrer Muttersprache über Rechtsmittel gegen und Gründe für die Inhaftierung informiert werden und die Möglichkeit haben, schnell eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Haft zu erwirken und einen Rechtsanwalt in Anspruch zu nehmen.
Die Einrichtungen, in denen Personen ihre Abschiebehaft verbringen, sollten gemäß Leitlinie 10.2 keine gefängnisartige Umgebung darstellen. Der gefürchtete ?Abschiebeknast? soll den Migranten, die keine Kriminellen, sondern nicht anerkannte Flüchtlinge oder ?Wirtschaftsmigranten? sind, die der Armut ihrer Herkunftsländer entfliehen wollen, gerade nicht zugemutet werden. Abschiebeeinrichtungen sollen deshalb als besondere Zentren mit qualifiziertem Personal betrieben werden, das auch über Sprachkenntnisse und besondere interkulturelle sowie soziale Kompetenzen verfügt. Ferner sollte ein Angebot an Tagesaktivitäten, ein Gemeinschaftsraum, Erhohlungsmöglichkeiten und Zugang zu Radio, Fernsehen und Printmedien bereit gestellt werden.
Insbesondere die Abschiebe-Lager im EU-Neustaat Malta hatten im Januar 2005 Aufsehen erregt. Dort waren friedliche Demonstrationen von Asylbewerbern durch das maltesische Militär blutig zerschlagen worden, mit denen die Demonstranten darauf aufmerksam machen wollten, dass viele hundert Menschen in viel zu kleinen Baracken ohne medizinische Versorgung und unter katastrophalen Bedingungen eingesperrt waren. Auch im restlichen Europa, wie auch in Deutschland, dringen in regelmäßigen Abständen Informationen über menschenunwürdige Lebensbedingungen in solchen Lagern an die Öffentlichkeit, weshalb die Umsetzung der Leitlinie 10 mehr als wünschenswert ist.
Abschiebeinhaftierte Personen sollen ferner die Möglichkeit haben, Rechtsanwälte, Ärzte, Nichtregierungsorganisationen und den UN-Flüchtlingskommissar (UNHCR) zu kontaktieren. Sie müssen das Recht haben, Misshandlungen anzuzeigen und davor geschützt werden, aufgrund einer solchen Beschwerde Nachteile und Einschüchterungen befürchten zu müssen.
Leitlinie 11 regelt mit der Abschiebehaft von Kindern und Familien ein besonders sensibles und wichtiges Thema. Die Inhaftierung von Kindern sollte als aller letztes Mittel erfolgen und nur für die kürzeste Zeit. Familien soll eine separate Wohnmöglichkeit gegeben werden, die ein angemessenes Niveau an Privatspäre gewährleistet. Kinder haben stets das Recht auf Bildung und auf Freizeit, was altersgemäße Spiele und Freizeitaktivitäten mitbeinhaltet.
In Kapitel 4 der Leitlinien hat der Europarat Regelungen über die Wiederaufnahme der Migranten im Ursprungsstaat festgehalten. Der Herkunftsstaat der abgeschobenen Person muss seine völkerrechtliche Verpflichtung anerkennen und seinen eigenen Staatsangehörigen ohne Formalitäten, Verzögerungen und Hindernisse aufnehmen und mit dem Aufenthaltsstaat zusammenarbeiten, wenn es um die Bestimmung der Staatsangehörigkeit eines Migranten geht.
Beide involvierte Staaten sollen den Grundsatz der Einheit der Familie berücksichtigen (Leitlinie 13.1) und beim Austausch von persönlichen Daten der Migranten den Datenschutz berücksichtigen (Leitlinie 12). Der abschiebende Staat soll dem Herkunftsland dabei insbesondere keine Informationen übermitteln, die den Asylantrag der jeweiligen Person betreffen oder die sie auf irgendeine Weise einer Gefahr nach ihrer Rückkehr aussetzen.
Das fünfte und letzte Kapitel widmet sich dem Problemkreis der Zwangsabschiebung. Nachdem bereits Leitlinie 1 den grundsätzlichen Vorrang einer freiwilligen Rückkehr vor einer Zwangsabschiebung betont, bestimmt Leitlinie 15, dass der Aufenthaltsstaat in allen Phasen des Ausweisungs- und Abschiebeverfahrens stets die Zusammenarbeit mit den Migranten suchen soll, mit dem Ziel, dass diese ihrer Ausreisepflicht nachkommen. Überdies müssen Migranten und Migrantinnen, die ausgewiesen werden sollen, aus medizinischer Sicht reisefähig sein; bei ihrer Abschiebung müssen ihre Würde geachtet und ihre Sicherheit, sowie die Sicherheit der anderen Passagiere und der Besatzung gewährleistet sein.
Sicherheitseskorten sollen nur aus sorgältig ausgewählten und adäquat ausgebildeten Personen bestehen; sie sollen über ausreichend Informationen über die Rückkehrer erhalten und mit ihnen kommunizieren können (Leitlinie 18).
Zwangsmaßnahmen müssen stets streng verhältnismäßige Reaktionen auf gegenwärtigen oder vernünftigerweise zu erwartenden Widerstand sein und das Ziel verfolgen, den Rückkehrer zu kontrollieren (Leitlinie 19.1). In keinem Fall sollen Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden, die die Atmung der Migranten beeinträchtigen oder die sie in Positionen zwingen, in denen sie der Gefahr eines Erstickungstodes ausgesetzt sind. Die Begleiteskorte soll in der Anwendung von Zwangsmaßnahmen und in den bestehenden Risiken geschult sein.
Letztlich sieht Leitlinie 20 vor, dass die 46 Mitgliedsstaaten des Europarates effektive Kontrollsysteme einschließlich angemessener Überwachungseinrichtungen etablieren sollen, um Zwangsabschiebungen überwachen. Jede Zwangsabschiebung sollte vollumfänglich dokumeniert werden, um Transparenz schaffen. Beschwerden von Migranten über Misshandlungen bei der Durchführung sollten zeitnah zu effektiven und unabhängigen Untersuchungen führen.
Die verabschiedeten Leit- und Richtlinien stellen ein praktisches Werkzeug dar, um Regierungen und Verwaltungen einen roten Faden für die Gestaltung des Abschiebeverfahrens an die Hand zu geben. Der Text ist eine verständliche Zusammenfassung und Weiterentwicklung von Normen, Standards und Wünschenswertem, wenngleich Zwangsabschiebungen auch unter Berücksichtigung aller Standards hochproblematisch sind. Gleichwohl ist von nicht geringer Bedeutung, dass sich die Vertreter von 46 Staaten auf eine derartige Erklärung einigen konnten. Es wird sich in der Anwendung und Weiterentwicklung dieser Standards zeigen, wie effektiv die Menschenrechte von Migranten, ihre Würde und ihre körperliche Integrität bei derartigen Operationen gewahrt werden können.

von Daniel Naujoks
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