Am kommenden Donnerstag findet die abschließende Beratung eines gemeinsamen Antrags von CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel "Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten vor 101 Jahren" statt. Darin wird die Bundesregierung u. a. aufgefordert, die Massaker und Vertreibung der Armenier, an denen auch das Deutsche Reich Verantwortung trägt, als Völkermord einzustufen. Bei diesem Thema, in dem die türkische Regierung, türkische Verbände und Vereinigungen auf die Volksvertreter Druck ausüben, ist es nicht akzeptabel, wenn gerade die Integrationsministerin in tösendes Schweigen versinkt. Wie der Abgeordnete Cem Ozdemir richtig betont hat, müsse ein Abgeordneter "auch mal den Rücken steif machen - das gehört zur Jobbeschreibung". Auch wenn die Integrationsministerin gerne an anderer Stelle betont, dass sie sich als Kind türksicher Eltern nicht in einer Sonderrolle sieht, kommen Zweifel an ihrer Standhaftigkeit und Unabhängigkeit gegenüber den politischen Strömungen in der Türkei auf. Oder was soll der Öffentlichkeit das beredte Schweigen der Integrationsministerin Aydan Özoguz in Hinblick auf die Abstimmung zum Völkermord an den Armeniern am kommenden Donnerstag sagen? Reicht der Arm Erdogans bis in die deutsche Regierung?
Die demonstrative Nichtteilnahme an der Debatte ist um so erstaunlicher, als die SPD im Rahmen eines fraktionsübergreifenden Antrags im Bundestag im Jahr 2005 das Bestreiten der planmäßigen Massaker an den Armeniern durch die Türkei ausdrücklich rügt. Die türkische Haltung steht im Widerspruch zu der Idee der Versöhnung, die die Wertegemeinschaft der
Europäischen Union leitet:
"Die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs, die Republik Türkei, bestreitet bis heute entgegen der Faktenlage, dass diesen Vorgängen eine Planmäßigkeit zugrunde gelegen hätte bzw. dass das Massensterben während der Umsiedlungstrecks und die verübten Massaker von der osmanischen Regierung gewollt waren. Die zugegebene Härte gegen die Armenier wurde stets mit der Tatsache gerechtfertigt, dass sowohl 1878 als auch 1914/1915 viele Armenier auf Seiten Russlands gegen die Türkei gekämpft haben und dass die Gefahr bestanden hätte, dass die Armenier auch im Ersten Weltkrieg dem Osmanischen Reich in den Rücken fallen würden. Andere türkische Rechtfertigungen berufen sich auf armenische Gewaltanwendung gegen Türken, die beim bewaffneten Widerstand gegen die türkischen Umsiedlungsmaßnahmen vorkamen. Auch die bis in die 1980er Jahre von Armeniern gegen Türken verübten terroristischen Anschläge werden zur Rechtfertigung der türkischen Position herangezogen. Insgesamt wird das Ausmaß der Massaker und Deportationen in der Türkei immer noch verharmlost und weitgehend bestritten. Diese türkische Haltung steht im Widerspruch zu der Idee der Versöhnung, die die Wertegemeinschaft der Europäischen Union leitet. Auch heute noch sind Historiker in der Türkei bei der Aufarbeitung der Geschichte der Vertreibung und Ermordung von Armeniern nicht frei und kommen trotz Lockerung der bisherigen Strafbarkeit nach wie vor unter großen Druck."
In Anbetracht dieser klaren Aussagen - die sich die Integrationsministerin zu eigen gemacht hatte - erscheint ihr Schweigen heute als Zumutung. Wäre sie doch heute aufgrund des von ihr bekleideten Amtes in der Pflicht, klar Stellung zu beziehen. Der Einfluss Erdogans auf die Meinungsfreiheit in Deutschland darf nicht dazu führen, dass deutsche Spitzenpolitiker den Kopf einziehen, um sich Ärger mit der Türkei oder ihrem Wahlkreis zu ersparen. Eine starke Demokratie lebt von starken, unabhänigen Politikern. Auch an dieser Stelle hat der Grünen-Chef Özdemir recht: "Der Bundestag lässt sich nicht von einem Despoten wie Herrn Erdogan erpressen."
Gerade die Integrationsministerin möchte sich doch gewiss nicht dem - mit Sicherheit unzutreffenden - Verdacht aussetzen, ein Sprachrohr Erdogans in der deutschen Regierung zu sein. Denn sonst wäre dieser Zustand unhaltbar!
Dr. Klaus Dienelt, Mainz 28.05.2016