Mehrstaatigkeit umsetzen - Rechtsanwalt Ünal Zeran, Hamburg

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Die neue Bundesregierung aus SPD, B90/Grüne und FDP will laut Koalitionsvereinbarungeinen Dauerkonflikt der Migrationspolitik lösen und die Mehrstaatigkeit bei der Einbürgerungermöglichen. Im Koalitionsvertrag heißt es auf S.118: „Wir schaffen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht. Dafür werden wir die Mehrfachstaatsangehörigkeit ermöglichen und den Weg zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit vereinfachen“.

Die letzte große Reform des Staatsangehörigkeitsrechts trat am 1.1.2000 in Kraft. Neben der Senkung der Hürden für eine Einbürgerung war die Abkehr vom Abstammungsprinzip hin zum Geburtsortsprinzip ein Meilenstein für ein modernes Staatsbürgerschaftsverständnis. Mit einer misslungenen Optionsregelung und der Streichung der sog. Inlandsklausel versuchte die Bundesregierung die Gegenstimmen zur Reform zu besänftigen. 

Bis zum 1.1.2000 gab es die Möglichkeit nach der Einbürgerung in Deutschland eine andere Staatsangehörigkeit zu erwerben, ohne dass dies zum Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit führte. Voraussetzung war, dass bei freiwilliger Annahme der ausländischen Staatsangehörigkeit der gewöhnliche Aufenthalt des Annehmenden in Deutschland war (Inlandsklausel). 

Nach dem 1.1.2000 führte die freiwillige Annahme einer anderen Staatsangehörigkeit zum automatischen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Auf den gewöhnlichen Aufenthalt wurde nicht mehr abgestellt. Insbesondere bei eingebürgerten türkischstämmigen Personen wird in der Praxis oft unterstellt, dass sie nach einer Einbürgerung die türkische Staatsbürgerschaft wieder annehmen. Bei den deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei wird routinemäßig bei Familiennachzugsfällen, Auslandsgeburten oder Verlust von Dokumenten geprüft, ob die deutsche Staatsangehörigkeit tatsächlich fortbesteht. 

Hierzu wird die Vorlage von türkischen Personenstandsregisterauszügen verlangt, wo Eintragungen zum Erwerb und Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit enthalten sind. 

Das Bundesinnenministerium hat die Bundesländer in Mai 2019 angewiesen, Nachforschungen bei der Ausstellung von deutschen Passdokumenten an ehemals türkische Staatsangehörige anzustellen. Es ist nicht bekannt, dass bei anderen Herkunftsländern die Auslandsvertretungen ähnlich verfahren bzw. die Passbehörden Nachweise zum Bestehen der deutschen Staatsangehörigkeit verlangen. 

Das die bestehende Regelung womöglich Unionsrechtswidrig ist, wird in den Ministerien und der juristischen Fachwelt ignoriert. Das ist erstaunlich. Art. 20 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status der Unionsbürgerschaft. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die in Art 20 AEUV normierte Unionsbürgerschaft dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. 

Im Jahre 2010 hat der Gerichtshof im Urteil Rottmann (C-135/08) seine Zuständigkeit für die Auslegung von staatsangehörigkeitsrechtlichen Verlustregeln bejaht und eine verhältnismäßige Entscheidung im nationalen Recht angemahnt. 

Im Jahre 2019 erteilte der Gerichtshof im Urteil Tjebbes (C-221/17) einer nationalen Regelung, die zu einem automatischen (gesetzlichen) Verlust führt, eine Absage und mahnte eine Einzelfallprüfung an. „Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes verstieße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten“ (Rn.41 des Urteils). 

Seit dem Tjebbes Urteil sind fast 3 Jahre vergangen, ohne dass deutsche Gerichte eine Relevanz dieser Entscheidung für das nationale Recht erkennen würden (vgl z.B. VG Köln 10 K 8913/17). Dies, obwohl §25 StAG einen automatischen gesetzlichen Verlust, ohne Einzelfallprüfung vorsieht. 

Dem EuGH liegt die Vorlage des Landesverwaltungsgerichts Steiermark vom 3.2.2021 vor (C-85/21). In Österreich existiert in § 27 österr. StbG eine ähnliche Regelung wie in § 25 StAG, wonach der Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit zum automatischen Verlust der österreichischen Staatsangehörigkeit führt. Das vorlegende Gericht hat erhebliche Zweifel, ob diese Regelung im Lichte der Tjebbes Entscheidung unionsrechtskonform ist.

Es ist davon auszugehen, dass der EuGH noch in diesem Jahr die Vorlagefrage beantworten wird. Die neue Bundesregierung sollte nicht so lange warten bis die Unionsrechtswidrigkeit von § 25 StAG festgestellt wird. Es wäre relativ einfach jetzt schon § 25 StAG zu streichen, wenn ohnehin, wie politisch verabredet wurde, die Mehrstaatigkeit eingeführt werden soll. Damit müssten keine unionsrechtswidrigen Zustände bis zur Neuregelung aufrechterhalten werden. 

Eine Neuregelung des Staatsangehörigkeitsgesetzes sollte unbedingt eine Wiedergutmachung für unionsrechtswidrige Folgen aus der Zeit nach dem 1.1.2000 beinhalten. Dies könnte durch einen fristgebundenen, rückwirkenden Erklärungserwerb, ähnlich dem im August 2021 geschaffenen §5 StAG erfolgen.

Gastbeitrag von Rechtsanwalt Ünal Zeran