Im Rahmen des soeben im Bundestag beschlossenen „Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ taucht die verfassungsrechtliche Frage auf, ob man den Sozialleistungsausschluss für im Bundesgebiet lebende EU-Bürger damit rechtfertigen kann, dass sie rechtlich zur Ausreise in ihr Heimatland verpflichtet sind.
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Leistungsausschlusses ist insoweit die folgende Aussage des BVerfG:
„Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigte es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss … . Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.“
Um einen Leistungsausschluss begründen zu können, muss der Unionsbürger auf eine Obliegenheit verwiesen werden können, dass Bundesgebiet freiwillig zu verlassen, um ggfs. in seinem Heimatland Leistungen zu beziehen. Deutschland erfüllt seine sozialrechtlichen Verpflichtungen, wenn es Leistungen gewährt, die die Betroffenen in den Stand setzen, ihre Selbsthilfemöglichkeiten zu nutzen. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Nichtannahmebeschluss vom 4. Oktober 2016 (1 BvR 2778/13) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch eine Bedarfsdeckung im Ausland möglicherweise den Ausschluss von Sozialleistungen rechtfertigen kann:
"Mit Blick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums fehlt eine Auseinandersetzung damit, ob ein bestimmtes Aufenthaltsrecht oder eine Aufenthaltsperspektive (vgl. BVerfGE 132, 134 <171 ff. Rn. 92 ff.>) oder auch die Möglichkeit einer Bedarfsdeckung im Ausland (vgl. nun BSG, Urteil vom 20. Januar 2016 - B 14 AS 35/15 R -, juris) den Ausschluss von Sozialleistungen rechtfertigen können."
Grundvoraussetzung für diesen Legitimationsansatz muss die Ausreisepflicht eines Unionsbürgers sein. Denn sozialrechtlich geht es um die Frage, ob eine aufenthaltsrechtlich bestehende Ausreisepflicht zu einer zumutbaren sozialhilferechtlichen Obliegenheit führen kann, den Bezug von Sozialleistungen im Bundesgebiet durch Ausreise zu beenden. Eine Ausreiseobliegenheit kann aber nur dann entstehen, wenn der Unionsbürger tatsächlich ausreisepflichtig ist.
Hier macht der Gesetzgeber einen entscheidenden Fehler: Keiner der Unionsbürger ist tatsächlich ausreisepflichtig. Soweit die Unionsbürger allein zur Arbeitssuche im Bundesgebiet ist oder von seiner Ausbildungsfreiheit Gebrauch macht, genießt er Freizügigkeit. Aber auch wenn der Aufenthalt von keinem Freizügigkeitstatbestand erfasst wird, ist der EU-Bürger nicht ausreisepflichtig. Denn die Ausreisepflicht eines Unionsbürgers setzt nicht nur den Wegfall der Freizügigkeit voraus, sondern zugleich die Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde. Daher müsste der Leistungsausschluss an die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU gebunden werden, um überhaupt eine Mitwirkungsobliegenheit zur Ausreise zu begründen.
Dass einem Unionbürger, der sich rechtmäßig oder sogar freizügigkeitsberechtigt im Bundesgebiet aufhält, weil eine Verlustfeststellung nicht ergangen oder aus Rechtsgründen nicht möglich ist, die Leistungen vorenthalten werden können, erscheint verfassungsrechtlich daher kaum haltbar. Was bleibt aus dem Recht auf Beendigung der Schulausbildung nach Art. 10 VO (EU) 492/2011, wenn der freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger ausgehungert wird?
Mainz, den 5.12.2016