Migrationsrecht.net - Informationsportal zum Ausländerrecht

Das Portal Migrationsrecht.net bietet Juristen, Rechtsanwälten, Journalisten und auch Rechtssuchenden mit seinem Experten-Netzwerk umfangreiche Informationen sowie aktuelle News aus dem gesamten Bereich des europäischen und deutschen Migrationsrechts. Zu vielen Themengebieten des Ausländerrechts stehen Texte, Abhandlungen, Gesetze und Verordnungen sowie E-Books zur Verfügung.

Türken, Unionsbürger, Beitritt, Türkei, EU, Assoziierungsabkommen

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Sind Türken schon vor dem Beitritt der Türkei Unionsbürger?


Die in gewissen Zeitabständen wiederkehrenden bruchstückartigen öffentlichen Erörterungen des EU-Beitritts der Türkei, zuletzt im Hinblick auf die Anerkennung des neuen EU-Staats Zyperns durch die Türkei, lassen meist die historische Entwicklung des Beitrittsprozesses und den Rechtsstatus der in Europa lebenden türkischen Arbeitnehmer und ihrer Familien außer Acht. Das Assoziierungsabkommen der EWG und der Türkei wurde 1963 geschlossen, aus verschiedenen Gründen aber nicht eingehalten. Gleichwohl wurde mit der schrittweisen Herstellung der Freizügigkeit begonnen. Die maßgeblichen Regeln legte der Assoziationsrat im Jahre 1980 fest (Beschluss Nr. 1/80 ? ARB 1/80).

Danach erwerben Arbeitnehmer durch die Beschäftigung in einem Mitgliedstaat im Zuge einer stufenweisen Verfestigung nach insgesamt vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und ein entsprechendes Aufenthaltsrecht (Art. 6). Auch nachgezogene Familienangehörige und Kinder mit abgeschlossener Berufsausbildung können in den Genuss dieser Rechtspositionen gelangen (Art. 7). Die assoziationsrechtlichen Ansprüche stehen allerdings unter dem Vorbehalt von Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind (Art. 14). Eben diese Einschränkung stimmt im Wortlaut und ? wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) mehrfach entschieden hat ? mit dem Inhalt von Art. 39 III EG-Vertrag überein, der die Freizügigkeit der Arbeitskräfte aus den Unionsstaaten begrenzt ( zu den Besonderheiten des Aufenthaltsrechts türkischer Arbeitnehmer nach ARB 1/80 (Beitrag von Rechtsanwältin Ausländerrecht Jana Laurentius und zur Rechtsprechung des EuGH die im Juli 2005 aktualisierte Übersicht von Renner).

Zur Freizügigkeit der Unionsbürger hat der EuGH in dem Urteil Orfanopoulos und Oliveri (C- 482/01 u.a., EZAR 810 Nr. 14; dazu Anmerkung Renner, ZAR 2004, 195) festgestellt, dass das deutsche Ausweisungssystem mit den schematisch und automatisch wirkenden Regeln über Ist- und Regel-Ausweisung auf Unionsbürger nicht angewandt werden darf. Die Beendigung der Freizügigkeit erfordere eine aktuelle und auf die Person bezogene Gefährdungsprognose und eine Interessenabwägung unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und der Grundrechte, vor allem des Schutzes der Familie. Der deutsche Gesetzgeber hat hieraus ab 1. Januar 2005 die Konsequenzen gezogen und den Verlust des Freizügigkeitsrechts an Art. 39 III EGV geknüpft (§ 6 I FreizügG/EU). Weder dort noch in der Rechtsprechung des EuGH findet sich ein Hinweis darauf, dass die zuständigen Behörden bei der Feststellung des Nichtbestehens oder der Beendigung Ermessen auszuüben hätten (so aber BVerwG, 1 C 30.02, EZAR 034 Nr. 17).

Assoziationsberechtigte Türken behandelt der Gesetzgeber seit Beginn dieses Jahres hinsichtlich des Aufenthaltsrechts ähnlich wie Unionsbürger. Während diese jetzt von Amts wegen eine Bescheinigung und ihre drittstaatsangehörigen Familienmitglieder eine Aufenthaltserlaubnis-EU erhalten (§ 5 I u. II FreizügG/EU), müssen jene eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, aber nur zum Nachweis ihres kraft Gemeinschaftsrechts bestehenden Rechtsstatus (§ 4 V AufenthG). Für sie sollen aber scheinbar weiterhin die starren deutschen Ausweisungsregeln (§§ 53 bis 56 AufenthG) gelten. Diese Behandlung entspricht nicht dem Gemeinschaftsrecht. Unter Art. 6 oder 7 ARB 1/80 fallende Türken genießen nicht nur die Rechte auf Aufenthalt und Zugang zur Beschäftigung unmittelbar kraft Assoziationsrechts (so schon EuGH 1990 im Urteil Sevince, Rs. 192/89, EZAR 811 Nr. 11), sondern sie dürfen nach Maßgabe von Art. 14 ARB 1/80 auch nur nach denselben Grundsätzen ausgewiesen werden wie Unionsbürger (so ausdrücklich EuGH im Urteil Nazli, C-340/97, EZAR 816 Nr. 4; dazu Weber, ZAR 2000, 134). Auch in diesem Zusammenhang hat der EuGH nicht entschieden, dass über die Aufenthaltsbeendigung nach Ermessen zu befinden sei (anders aber BVerwG, 1 C 29.02, EZAR 037 Nr. 10). Erst in den jüngsten Ureilen vom 7. Juli 2005 hat er Beschränkungen des Aufenthaltsrechts aufgrund von Art. 14 ARB 1/80 daran geknüpft, dass ?der Aufenthalt des türkischen Migranten ? durch das persönliche Verhalten ? die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit tatsächlich und schwerwiegend gefährdet? (C-373/03, demn. EZAR NF 19 Nr. 11 ? Aydinli; ähnlich C-383/03, demn. EZAR NF 19 Nr. 13 - Dogan).

Nach alledem stehen Türken, auch wenn sie die Rechte aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 genießen, Unionsbürgern nicht gleich. Ihr Aufenthalt und ihre Beschäftigung werden aber von deutschen Behörden nicht gewährt oder gestaltet, sondern nur nachvollzogen und deklaratorisch bescheinigt. Die ihnen kraft Gemeinschaftsrechts zustehende Freizügigkeit ist in vielfacher Hinsicht beschränkt, vor allem auf das deutsche Staatsgebiet und auf den erreichten Status (also z. B. ohne die Gewährleistung eines Familiennachzugs). Bei Verstößen gegen die Rechtsordnung unterliegen sie aber nur denselben Beschränkungen wie Unionsbürger. Schließlich werden sie wie andere Drittstaatsangehörige aufgrund der bis zum 22. Januar 2006 umzusetzenden RL 2003/109/EG nach fünf Jahren Aufenthalt nicht nur ein EU-Daueraufenthaltsrecht erwerben, sondern auch die Befugnis, in einen anderen Mitgliedstaat weiterzuwandern. Ihre Freizügigkeit wird auch dann nicht europaweit gelten, sich aber über das deutsche Staatsgebiet hinaus auf einen anderen EU-Mitgliedstaat nach freier Wahl erstrecken.

Fazit: Türken sind keine Unionsbürger, genießen aber teilweise weitgehende Rechte auf Fortsetzung des Aufenthalts und auf Zugang zum Arbeitsmarkt.

Weiteres zum Thema Rechtssprechung hier.

Weitere Kolumnen von Professor Dr. Günter Renner finden Sie hier <...>.