Ausländerrecht ? Rechtsprechung ARB 1/80: ?Vier-Augen-Prinzip? bei Ausweisungsverfügung, VG Stuttgar

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Entscheidung des VG Stuttgart zum ?Vier-Augen-Prinzip? bei Ausweisungsverfügung

Die 5. Kammer des VG Stuttgart hat mit Urteil vom 07.02.2006 (5 K 5146/04) entschieden, dass eine Ausweisungsverfügung wegen Verletzung des gemeinschaftsrechtlichen ?Vier-Augen-Prinzips?, welches bei Unionsbürgern und türkischen Staatsangehörigen, die Rechts aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 ableiten können, grundsätzlich die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens erfordert, unheilbar rechtswidrig ist. Dabei wurde der Frage nachgegangen, ob die bevorstehende Aufhebung des Art. 9 RL 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie oder die Regelung des § 46 LVwVfG zur Unbeachtlichkeit des Verfahrensfehlers führen können.

Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle (?Vier-Augen-Prinzip?)

?Die europarechtlichen Verfahrensgarantien aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2005 - Rs. C-136/03 -, DVBl. 2005, 1437 = InfAuslR 2005, 289; BVerwG, Urte. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 - u.v. 06.10.2005 - 1 C 5.04 -). Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG lautet: ?Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.?

Aufhebung des ?Vier-Augen-Prinzips? durch die Unionsbürgerrichtlinie

?Dass diese Richtlinie mit Inkrafttreten der Richtlinie 2004/38/EG (ABl. L 158/77) am 30.04.2006 außer Kraft tritt (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) und nach Art. 31 RL 2004/38/EG die Beteiligung einer unabhängigen Stelle nicht mehr vorgesehen ist, führt nicht dazu, dass bereits jetzt - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - aufgrund einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/38/EG von der Nichtanwendbarkeit des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auszugehen ist. Dem steht der eindeutige Wortlaut des Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG entgegen. Unabhängig hiervon ist ohnehin im Ausländer- und Asylrecht vor Ablauf der Umsetzungsfrist (hier: 30.04.2006, vgl. Art. 40 Abs. 1 RL 2004/38/EG) bzw. - wenn zuvor erfolgt - Verkündung des Umsetzungsgesetzes regelmäßig keine vom Instanzrichter beachtliche Vorwirkung von EG-Richtlinien anzunehmen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -, AuAS 2005, 163 = InfAuslR 2005, 296 = VBlBW 2005, 303; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 13.07.2005 - 1 LA 68/05 -, AuAS 2005, 262; jew. zur sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG, ABl. L 304/12).

Findet die nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle (?Vier-Augen-Prinzip?) nicht statt, ist die Ausweisung wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein ?dringender Fall? vor. Ein solcher Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein besonderes öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.).? ?

Das Gericht legt in der weiteren Entscheidung dar, dass ein dringender Fall nicht vorliegt und kommt zur Frage, ob der Verfahrensfehler im Hinblick auf § 46 LVwVfG unerheblich ist.

Unbeachtlichkeit des Verfahrensfehlers nach § 46 LVwVfG

?§ 46 LVwVfG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Verletzung von Vorschriften über das Verfahren unbeachtlich ist, findet auf den hier vorliegenden Fehler des formellen Gemeinschaftsrechts keine Anwendung (das BVerwG hat diese Frage in den Urte. v. 13.09.2005 u. 06.10.2005, a.a.O., nicht aufgeworfen, desgleichen nicht der VGH Bad.-Württ. im Beschl. v. 19.01.2006, a.a.O.). Diese Vorschrift erfasst nicht sogenannte absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts (vgl. Wolff/Decker, VwGO/VwVfG - Studienkommentar -, 2005, § 46 VwVfG RdNr. 9). Ein absolutes Verfahrensrecht liegt vor, wenn die verfahrensrechtliche Bestimmung nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs, insbesondere einer umfassenden Information der Verwaltungsbehörde dient, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren will (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325, 331 f. = NJW 1982, 1546; Wolff/Decker, a.a.O., § 42 VwGO RdNr. 107). Absolute Verfahrensvorschriften wollen dem Berechtigten die Möglichkeit geben, die Aufhebung der Sachentscheidung allein wegen der Verletzung der Verfahrensvorschrift zu verlangen. Die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf vorrangigem Gemeinschaftsrecht beruhen, werden nach ganz herrschender Meinung wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt. Das Erfordernis einer effektiven einheitlichen Wirkung des Gemeinschaftsrechts (sog. ?effet utile?, vgl. Bergmann, Recht und Politik der Europäischen Union, 2001, RdNrn. 184 u. 440 ff.; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in: Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76; Kenntner, VBlBW 2000, 297, 301; Kopp/Ramsauer, a.a.O., Einf. RdNr. 57) schließt eine Anwendung des § 46 LVwVfG aus (vgl. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S. 425; Kahl, VerwArch. 2004, 1, 22 ff.; Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 RdNr. 20; Sachs, a.a.O., § 45 RdNr. 187; Wolff/Decker, a.a.O., § 46 VwVfG RdNr. 10). Die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sind untrennbar mit dem (materiellen) Recht der Arbeitnehmer - Unionsbürger und türkische Staatsangehörige, denen Rechte nach dem ARB 1/80 zustehen - auf Freizügigkeit sowie Beschäftigung und ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verbunden (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2005, a.a.O., RdNr. 67 unter Hinweis auf Nr. 59 des Schlussantrags des Generalanwalts Maduro, InfAuslR 2005, 17) und daher wie absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts zu behandeln.?