EuGH, Urteil vom 16.02.2006, Torun, Rechtssache C-502/04, Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG vom 3. August 2004, Auslegung des Art. 7 Abs. 2 ARB 1/80
Rechte der Kinder türkischer Wanderarbeitnehmer gestärkt: In einem Verfahren gegen die Stadt Augsburg entschied der Europäische Gerichtshof am 16.02.06 im Falle eines zu mehr als drei Jahren Gefängnis verurteilten Drogenabhängigen, dass auch erwachsene Kinder nur bei konkreter Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder bei Verlassen des Hoheitsgebietes für einen nicht unerheblichen Zeitraum (ohne berechtigte Gründe) ihr Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen der EU mit der Türkei verlieren.
Vorlagefrage Rechtssache "Torun" C-502/04:
Mit seinem Vorlagebeschluss wollte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen wissen, unter welchen Umständen ein türkischer Staatsangehöriger wie Herr Torun, der im Aufnahmemitgliedstaat nach Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat, dieses Recht verlieren kann.
Sachverhalt Rechtssache "Torun" C-502/04:
Herr Torun, der seit seiner Geburt in Deutschland gelebt hat und Sohn eines türkischen Arbeitnehmers ist, der seit 1972 in diesem Mitgliedstaat rechtmäßig beschäftigt war, absolvierte nach dem Besuch der Grund- und Hauptschule vom 1. September 1991 bis 28. Februar 1995 eine Berufsausbildung als Industriemechaniker, die er erfolgreich mit der Gesellenprüfung abschloss. Nach Abschluss seiner Berufsausbildung arbeitete Herr Torun bis Ende 1996 meist für zwei bis drei Monate bei wechselnden Unternehmen. Zwischen diesen Beschäftigungen war er arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe. Seit Anfang 1997 war er heroinabhängig sowie arbeitslos und Empfänger von Arbeitslosenhilfe, deren Bewilligung jedoch rückwirkend zum 23. Februar 1998 aufgehoben wurde, weil er sich nicht zu einem Vorstellungsgespräch bei einer Zeitarbeitsfirma eingefunden hatte, bei der ihm eine Stelle als Mechaniker angeboten worden war. Herr Torun, der im Oktober 1997 erstmals strafrechtlich verurteilt worden war, wurde ? nach seiner Festnahme im Mai 1998 ? im März 1999 wegen schweren Raubes und unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Entscheidungsgründe Rechtssache "Torun" C-502/04:
Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt, stellt Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 eine gegenüber Absatz 1 des Artikels günstigere Bestimmung dar, die unter den Familienangehörigen der türki-schen Arbeitnehmer die Kinder besonders behandeln wollte, indem sie ih-nen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbil-dung zu erleichtern sucht, damit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ge-mäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise verwirklicht wird (Urteil Akman, Randnr. 38). Daraus folgt, dass Absatz 2 dieses Artikels nicht restriktiver ausgelegt werden kann als Absatz 1 und dass die Rechte, die er den türkischen Staatsangehörigen verleiht, die den Tatbestand dieses Absatzes 2 erfüllen, daher umso weniger unter anderen Voraussetzungen als denen, die im Rahmen des Absatzes 1 des Artikels anwendbar sind, eingeschränkt werden können. Folglich kann es nur zwei Arten von Be-schränkungen der durch Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 ver-liehenen Rechte geben, nämlich entweder stellt die Anwesenheit des tür-kischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegen-de Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeit-raum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. entsprechend Urteile Cetin-kaya, Randnr. 36, und Aydinli, Randnr. 27).
Daher können entgegen der von der deutschen Regierung in ihren schrift-lichen Erklärungen vertretenen Auffassung die durch Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 verliehenen Rechte nicht unter den gleichen Um-ständen beschränkt werden wie die durch Artikel 6 des Beschlusses ver-liehenen. Der türkische Staatsangehörige, dem solche Rechte zuerkannt worden sind, kann dieser Rechte also weder deshalb verlustig gehen, weil er wegen einer strafrechtlichen Verurteilung zu einer dreijährigen Frei-heitsstrafe keine Beschäftigung ausgeübt hat, noch aufgrund der Tatsa-che, dass er das Aufenthaltsrecht verloren hat, das aus dem zuvor nach Artikel 6 Absatz 1 des Beschlusses erworbenen Recht auf Beschäftigung abgeleitet wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil Aydinli, Randnr. 31).
Schließlich ist festzustellen, dass Artikel 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er nur für die Situati-on eines Minderjährigen gilt, der das Kind eines dem regulären Arbeits-markt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers ist, nicht aber für die eines Volljährigen, der das Kind eines solchen Arbeitnehmers ist. Zunächst trifft Artikel 7 in Absatz 2 keine solche Unterscheidung. Sodann würde dieser Absatz durch eine derartige Ausle-gung einen großen Teil seiner Substanz verlieren. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Artikel 7 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 auch für die Situation eines Volljährigen gilt, der das Kind eines dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeit-nehmers ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Cetinkaya, Randnr. 34, und Ay-dinli, Randnrn. 22 und 23), und dass nach dem mit diesem Beschluss ein-geführten System Absatz 2 des Artikels 7 nicht restriktiver ausgelegt werden kann als Absatz 1 des Artikels (vgl. Randnrn. 22 bis 24 des vor-liegenden Urteils).
Tenor der Entscheidung Rechtssache "Torun" C-502/04
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Das volljährige Kind eines in einem Mitgliedstaat seit mehr als drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Wanderarbeitnehmers, das in diesem Staat eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und die Voraus-setzungen des Artikels 7 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. Sep-tember 1980 über die Entwicklung der Assoziation erfüllt, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäi-schen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, verliert das aus dem Recht nach dieser Bestimmung, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, abgeleitete Aufenthaltsrecht nur in den Fällen des Artikels 14 Absatz 1 dieses Beschlusses oder dann, wenn es das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht un-erheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt.