Ausweisung türkischer Staatsangehöriger europarechtswidrig

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

 

Das BVerfG hob mit Beschluss vom 24.10.2011(icon BVerfG Vier-Augen-Prinzip) einen Nichtzulassungsbeschluss des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofs auf. Der VGH sei fehlerhafter Weise davon ausgegangen, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren gleichsam automatisch zum Verlust des Aufenthaltsrechts führe. Außerdem habe er die Frage der Weitergeltung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG bei Ausweisungen assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger dem EuGH unter Verletzung der Vorlagepflicht nicht zur Überprüfung zugeleitet.

Das BVerfG führt in seiner Entscheidung aus:

aa) Der Verwaltungsgerichtshof und das Verwaltungsgericht unterstellen, dass Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie und die entsprechende nationale Regelung in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU auf den Beschwerdeführer anwendbar seien, er sich aber nicht darauf berufen könne, weil schon wegen seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten ein zwingender Grund der öffentlichen Sicherheit vorliege. Mit der Frage einer an die Feststellung eines derartigen zwingenden Grundes anschließenden Ermessens- oder Abwägungsentscheidung befassen sie sich nicht, sondern gehen davon aus, dass bereits die verwirkte Freiheitsstrafe zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt. Das Berufungsgericht betont dabei ausdrücklich, der nationale Gesetzgeber habe bestimmt, dass zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit „stets“ dann vorlägen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Taten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden sei. Es teilt damit die schon der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zugrunde liegende Ansicht, die sich ebenfalls in der Feststellung erschöpft, dass der Beschwerdeführer die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU erfülle, weil er zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt wo rden sei.

bb) Soweit die Gerichte davon ausgehen, dass eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren gleichsam automatisch zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt, ist dies schon nach dem Wortlaut des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU nicht gerechtfertigt. Danach „können“ zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit nur dann vorliegen, wenn der Betroffene unter anderem wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt wurde. Eine entsprechende Verurteilung ist danach notwendige Voraussetzung für die Annahme zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit, genügt dafür aber nicht. Allein dieses Normverständnis steht auch in Einklang mit Wortlaut und Systematik des § 6 FreizügG/EU insgesamt, der in den Absätzen 2 und 3 Kriterien formuliert, die bei der Entscheidung über die Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts gemäß Absatz 1 zu berücksichtigen sind. Für die Unionsbürger, die einen zehnjährigen Aufenthalt aufzuweisen haben und deren Ausweisung von verschärften Voraussetzungen abhängt, gilt nichts anderes, wie sich zweifelsfrei aus Absatz 5 Satz 1 ergibt: Danach d a r f der Verlust des Aufenthaltsrechts nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Mithin knüpft das Gesetz an deren Vorliegen nicht ohne Weiteres die Rechtsfolge des Verlusts des Aufenthaltsrechts. Vielmehr normiert § 6 Abs. 5 FreizügG/EU für den dort genannten Personenkreis zusätzliche Anforderungen, unter denen überhaupt eine Feststellung des Verlusts des Aufenthaltsrechts in Betracht kommt, ohne hingegen eine Prüfung ihrer Voraussetzungen im Übrigen entbehrlich zu machen.

Weiterhin führt das BVerfG aus, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs den Beschwerdeführer darüber hinaus in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletze, weil das Gericht die Notwendigkeit einer Vorlage der Sache an den EuGH missachtet habe.

Diese Erwägung zur Weitergeltung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG für türkische Staatsangehörige, die Rechte nach Art. 6 oder 7 ARB 1/80 erworben haben, reiche offensichtlich nicht aus, um eine Vorlagepflicht zu verneinen, weil sich der BayVGH nicht ansatzweise mit der Argumentation des Beschwerdeführers zur Weitergeltung der Richtlinie 64/221/EWG für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige über den 30. April 2006 hinaus beschäftigt habe. Hierzu führt das BVerfG Folgendes aus:

Eine Auseinandersetzung damit war indes geboten. Der Beschwerdeführer hatte auf die Stellungnahme der Kommission der Europäischen Union zu der vor dem Gerichtshof anhängigen Rechtssache Polat (C-349/06) vom 15. Dezember 2006 verwiesen. Dort wird die Ansicht vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG für Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft seinerzeit verwirklicht worden sei. Hieraus folge, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürgerrichtlinie auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne. Der Inhalt völkerrechtlicher Normen könne sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern.

Die Richtlinie 64/221/EWG ist mit Wirkung vom 30. April 2006 durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG aufgehoben worden. Die Verfahrensgarantie der Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen durch Einschaltung einer zweiten Verwaltungsinstanz nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG wurde in Art. 31 der RL 2004/38/EG durch Erweiterung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt. So hat das Gericht nunmehr im Rechtsbehelfsverfahren nicht nur die Rechtmäßigkeit der ausländerbehördlichen Entscheidung zu überprüfen, sondern auch die Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht (Art. 31 Abs. 3) - was in mehreren EG-Mitgliedstaaten bisher nicht gewährleistet war. Ferner darf die Abschiebung grundsätzlich so lange nicht erfolgen, bis das Gericht über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden hat (Art. 31 Abs. 2).

Für die Beurteilung, welche Konsequenzen die Aufhebung der verfahrensrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG für türkische Staatsangehörige hat, ist aber zu beachten, dass die Richtlinie nie unmmittelbar auf türkische Staatsangehörige Anwendung fand, sondern nur entsprechend auf die Rechtsstellung nach Art. 14 ARB 1/80 angewendet wurde. Der Generalanwalt Bott führte in dem Verfahren zur Anwendbarkeit der Ausweisungsregelung in der Unionbürgerrichtlinie auf türkische Staatsangehörige hierzu aus: 

 

"49.      Daraus ergibt sich, dass die türkischen Staatsangehörigen nur in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer oder Familienangehörige eines Arbeitnehmers vom Assoziationsabkommen erfasst sind und die ihnen mit dem Beschluss Nr. 1/80 verliehenen Rechte besitzen. 

50.      Aus diesem Grund hat der Gerichtshof die Ausnahme der öffentlichen Ordnung in Art. 14 Abs. 1 dieses Beschlusses ausgelegt, indem er auf die Auslegung derselben Ausnahme auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind, speziell im Rahmen der Richtlinie 64/221, Bezug genommen hat. 

51.      Die Arbeitnehmereigenschaft war nämlich der gemeinsame Nenner des Assoziationsabkommens und der Richtlinie 64/221, deren Art. 1 Abs. 1 sich an Staatsangehörige eines Mitgliedstaats richtet, die sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhielten oder sich dorthin begaben, um eine selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben oder um Dienstleistungen entgegenzunehmen. 

52.      Die Richtlinie 2004/38 geht jedoch über den rein wirtschaftlichen und arbeitnehmerbezogenen Rahmen hinaus. Sie wurde nämlich gerade im Hinblick darauf erlassen, den bis dahin bestehenden bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansatz des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts der Unionsbürger zu überwinden. So richtet sich die Richtlinie 2004/38 nicht mehr nur an eine Personengruppe, nämlich die Arbeitnehmer, sondern betrifft nach ihrem Art. 1 Buchst. a die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen." 

Dass die Richtlinie 64/221/EWG für Unionsbürger aufgehoben wurde, spricht nicht dagegen, diese weiterhin auf türkische Staatsangehörige, entsprechend heranzuziehen. Dies hätte zur Folge, dass eine Ausweisung gegen die Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG verstoßen kann, sofern nicht ausnahmsweise ein dringender Fall vorliegt. Der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG würde daher auch unter Berücksichtigung der mittlerweile durch Art. 38 Abs. 2 und Art. 31 der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-Richtlinie - ABl L 158 vom 30. April 2004, S. 77) eingetretenen Rechtsänderung zur Rechtswidrigkeit der Ausweisungen führen. Dies gilt nicht nur für Altfälle, sondern für jede Ausweisung!

Auch die Kommission hat in ihrer Stellungnahme in der Rechtssache Polat (C-349/06) vom 15.12.2006 klargestellt, dass bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte, wie Art. 14 ARB 1/80, davon auszugehen sei, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221 (EWG) für „Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten" verwirklicht wurde. Die Vertragsparteien hätten sich an den damals bekannten Maßstäben der RL 64/221/EWG orientiert. Hieraus folge, „dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221 (EWG) durch die Richtlinie 2004/38/EG auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund des Abkommens erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben kann." „Der Inhalt völkerrechtlicher Normen kann sich nämlich nicht automatisch durch eine spätere Änderung der Rechtslage eines Vertragspartners ändern. Das Wesen des Völkerrechts besteht gerade darin, das sich die souveränen Vertragsparteien nur selbst verpflichten können; heteronome Normsetzung kommt in diesem Zusammenhang nicht in Betracht. Genau eine solche heteronome Normsetzung läge aber vor, wenn sich die Änderung der internen Rechtslage der Gemeinschaft unmittelbar auf die Rechtsstellung türkischer Staatsangehöriger, die in völkerrechtlichen Regelungen festgelegt ist, auswirken könnte." (Ein Auszug der Stellungnahme kann von Mitgliedern unter Arbeitsmaterialien EU/Richtlinien/Unionsbürgerrichtlinie heruntergeladen werden.)

Folgen der Anwendung des Vier-Augen-Prinzips

Das BVerwG hatte mit seiner Enscheidung vom 9. August 2007 (BVerwG 1 C 47.06) klargestellt, dass eine Ausweisungsverfügung wegen des Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG unheilbar rechtswidrig sei.

Nach dem Urteil des BVerwG vom 13. September 2005 (BVerwG 1 C 7.04) sind die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben. Das Bundesverwaltungsgericht folgt damit der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urt. v. 02.06.2005 - C-136/03 - Dörr und Ünal, Rdnr. 66 bis 68). Es hat in seiner Entscheidung vom 13. September 2005 näher ausgeführt, dass Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zugunsten von Unionsbürgern sowie von nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen eingreift, weil die gerichtlichen Rechtsmittel gegen Ausweisungen nach der Verwaltungsgerichtsordnung nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen" und keine Zweckmäßigkeitsprüfung eröffnen, wie sie der EuGH verlangt. Er hat weiter entschieden, dass nach Abschaffung des behördlichen Widerspruchsverfahrens bei Ausweisungen die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde (nach dem "Vier-Augen-Prinzip") entfallen ist und deshalb Ausweisungen der begünstigten Ausländer wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig sind, es sei denn, es hätte ein "dringender Fall" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen. Nur in solchen dringenden Fällen kann von der Beteiligung einer zweiten Stelle ausnahmsweise abgesehen werden.

Findet damit aber Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG weiterhin auf türkische Staatsangehörige mit Ansprüchen aus Art. 6 Abs. 1 oder Art. 7 ARB 1/80 Anwendung, so sind die Ausweisungen weiterhin unheilbar rechtswidrig.

Dabei führt nicht nur der gänzliche Wegfall des Vorverfahrens zu einem Verfahrensfehler, sondern auch die Verkürzung des Vorverfahrens durch Konzentration auf eine Behörde. Der EuGH (Urt. v. 22.05.1980, Rs. C-131/79, Santillo) hat den Mitgliedstaaten zwar einen Beurteilungsspielraum für die Bestimmung der „zuständigen Stelle" eröffnet, aber zugleich klargestellt (Urt. v. 18.10.1990, Rs. C-297/88, Dzodzi), dass die unabhängige Stelle von der Behörde, die die Ausweisung verfügt, unabhängig sein muss: „Die Richtlinie gibt nicht näher an, wie die in Artikel 9 genannte zuständige Stelle bestimmt wird. Sie schreibt nicht vor, dass diese Stelle ein Gericht sein oder aus Richtern bestehen muss. Sie verlangt auch nicht, dass die Mitglieder der zuständigen Stelle für eine bestimmte Zeit ernannt werden. Die Hauptsache ist, dass eindeutig feststeht, dass die Stelle ihre Aufgaben in völliger Unabhängigkeit wahrnimmt und bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben weder unmittelbar noch mittelbar von der Stelle kontrolliert wird, die für den Erlass der in der Richtlinie vorgesehenen Maßnahme zuständig ist."

 

Wird eine unabhängige Stelle nicht eingeschaltet, so führt die Verletzung von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu einem "unheilbaren Verfahrensmangel", der auch nicht nach § 46 (L)VwVfG unbeachtlich ist. Hierbei geht es um die Frage, ob das Fehlerfolgenregime der nationalen Rechtsordnung zum Zuge kommt, wenn gemeinschaftsrechtliche Verfahrensregelungen in Form des indirekten Vollzugs durchgeführt werden. Der EuGH (Urt. v. 11.02.1971 – Rs. 39/70 – Fleischkontor, Slg. 1971, 49 [58]) hat für den indirekten unmittelbaren Vollzug einer Verordnung folgenden Grundsatz aufgestellt: "Obliegt der Vollzug einer Gemeinschaftsverordnung den nationalen Behörden, so ist davon auszugehen, dass er grds nach den Form- und Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts zu geschehen hat. Um der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts willen ist jedoch der Rückgriff auf innerstaatliche Rechtsvorschriften nur in dem zum Vollzug der Verordnung notwendigen Umgang zulässig." Auch in der Rechtssache Deutsche Milchkontor GmbH (Urt. v. 21.09.1983 – Rs. 205 bis 215/82 – Deutsche Milchkontor GmbH, Slg. 1983, 2633 [2665]) wurde dieser Grundsatz bestätigt: "Soweit das Gemeinschaftsrecht einschließlich der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält, gehen die nationalen Behörden bei dieser Durchführung der Gemeinschaftsregelungen nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts vor, wobei dieser Rechtssatz freilich, ..., mit den Erfordernissen der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Einklang gebracht werden muss, die notwendig ist, um zu vermeiden, dass die Wirtschaftsteilnehmer ungleich behandelt werden."

 

Danach gelangt im indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts in Erman-gelung gemeinschaftseinheitlicher Vorschriften das nationalen (L)VwVfG zur Anwendung. Die den einzelnen Mitgliedstaaten durch den EuGH zugestandene Verfahrensautonomie, d.h. die Freiheit der Mitgliedstaaten das Verwaltungsverfahren individuell auszuformen, besteht aber nicht grenzenlos. Der EuGH hat die Freiheit zur Ausgestaltung an zwei Bedingungen geknüpft: Das nationale Verfahrensrecht darf weder diskriminierend wirken noch darauf hinauslaufen, dass die Verwirklichung der gemeinschaftsrechtlich Regelung praktisch unmöglich wird.

Während sich das Diskriminierungsverbot nicht begrenzend auf die Anwendung des § 46 (L)VwVfG auszuwirken vermag, weil diese Vorschrift gleichermaßen in rein nationalen wie in gemeinschaftsrelevanten Verfahren einen kausalitätsunabhängigen Aufhebungsanspruch versagt, erscheint eine Verletzung des mit dem Begriff der praktischen Unmöglichkeit angesprochenen Effektivitätsgebots, bei dessen Anwendung es entscheidend darauf ankommt, ob die in Rede stehende nationale Vorschrift die Ausübung des europäischen Rechts tatsächlich unmöglich macht oder übermäßig erschwert, bedenkenswert. Immerhin läuft der durch § 46 (L)VwVfG angeordnete Ausschluss des Aufhebungsanspruchs darauf hinaus, dass die verfahrensrechtliche Regelung leerläuft, und zwar schlicht deshalb, weil ihre Nichtbeachtung durch § 46 (L)VwVfG sanktionslos gestellt wird. Damit würde im Ergebnis der mit der Verfahrensvorschrift bezweckte Erfolg „praktisch unmöglich" gemacht. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, gebietet das Effektivitätsgebot grds in Bezug auf europarechtliche Verfahrensvorschriften eine Sanktionierung von Verfahrensverstößen, um deren Beachtung auf nationalen Ebene zu erzwingen.

Das Prinzip der effektiven Durchsetzung europäischen Rechts auf nationaler Ebene ist aber auch aus Sicht des EuGH nicht grenzenlos gewährleistet; dies zeigt bereits die Verwendung der Begriffe „praktische Unmöglichkeit" bzw. „übermäßiges Erschweren". Damit wird nicht die maximale Verwirklichung gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensvorschriften bzw. sonstigen materiellen Gemeinschaftsrechts gefordert. Der EuGH (U. v. 21.11.2002 – C-473/00 – Cofidis SA, Slg. 2002 I-10875, Rn. 37) hat insoweit ausgeführt, dass „jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschriften im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieser Verfahren zu prüfen ist".

 

Die Wesentlichkeit einer Verletzung einer Form- oder Verfahrensbestimmung, auf die es maßgeblich ankommt, beurteilt sich daran, ob ihre Nichtbeachtung Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Rechtsakts gehabt haben könnte. Das Gemeinschaftsrecht geht dabei im Hinblick auf eine geringere gerichtliche Kontrolldichte in anderen Mitgliedstaaten von der Vorstellung aus, dass die materielle Richtigkeit einer Verwaltungsentscheidung durch ein konkretes Verwaltungsverfahren gesichert wird. Dies hat zur Folge, dass die Verletzung von Verfahrensregelungen nicht allein mit dem Hinweis auf die Kontrolldichte im gerichtlichen Verfahren für unbeachtlich erklärt werden kann.

Die Beteiligung einer unabhängigen Stelle ist immer geeignet, auch auf das Ergebnis des Verwaltungsverfahrens Einfluss zu nehmen. Insoweit hat das BVerwG den Verfahrensverstoß auch nicht nach § 46 (L)VwVfG als geheilt angesehen. Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift ist nach § 46 (L)VwVfG nämlich nur dann unbeachtlich, wenn "offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat". Das ist hier nicht der Fall. Die nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu beteiligende "zuständige Stelle" hatte eine unabhängige Stellungnahme zu der vorgesehenen Ausweisung abzugeben. Es ist möglich, dass diese Stelle bei Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gesichtspunkte zu einem von der Ausgangsbehörde abweichenden Ergebnis gelangt wäre. Ihre Stellungnahme hätte bei der gebotenen - und hier auch (hilfsweise) getroffenen - Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG berücksichtigt werden müssen, war also geeignet, die Entscheidung zu beeinflussen. Dabei ist unerheblich, dass der Stellungnahme keine Bindungswirkung für die entscheidende Behörde zukommt.

Fazit

Die Entscheidung des BVerfG ist von erheblicher Bedeutung, da bis zu einer Klärung der Frage der Weitergeltung des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige Ausweisungen nicht erfolgen können. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH diese Frage im Rahmen der Entscheidung über den Ausweisungsschutz türkischer Staatsangehöriger am 08.12.2011 mitentscheiden wird.