BGH zur rechtwidrigen Abschiebungshaft im Fall Slawik C.

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In dem in den Medien  für Aufsehen erregenden Prozess um den Fall des am 02.07.2010 in der Abschiebehaftanstalt Langenhagen bei Hannover verstorbenen Slawik C. entschied der BGH am 06.10.2011 - V ZB 314/10 -, dass das postmortale Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen von der Ehefrau aus einer teleologisch erweiternden Auslegung von § 62 Abs. 2 FamFG folgt und die Haft schon wegen Fehlens eines zulässigen Haftantrags rechtswidrig war.

Damit hat der BGH erstmals die Frage entschieden, ob den Hinterbliebenen eines in Abschiebunghaft Verstorbenen ein Beschwerderecht gegeben war, obgleich ihnen dieses nach § 418, 429 FamFG nicht zustand. Die Beschwerde ist nach diesen Vorschriften an sich unzulässig, wenn es an der Beteiligteneigenschaft fehlt, weil das erstinstanzielle Verfahren den Ehegatten nicht beteiligt hat (so lang der Fall hier). Jedoch kann ein Feststellungsantrag nach § 62 FamFG nach dem Tod des von einer vollzogenen Abschiebungshaft Betroffenen innerhalb der Rechtsmittelfristen von einem Angehörigen oder einer Vertrauensperson i.S.d. § 429 FamFG gestellt oder fortgeführt werden, so der BGH.

Nachdem der BGH die Zulässigkeitsfrage entgegen der Beschwerdeinstanz (LG Lüneburg, Entscheidung vom 23.11.2010 - 6 T 85/10 -) bejaht hatte, stellte er fest, dass der Haftantrag wegen des fehlenden Einverständnisses der Staatsanwaltschaft unzulässig war.

Das Verfahren sorgte vor dem Hintergrund des Freitodes von Slawik C. am 02.07.2010 in der Abschiebehaftanstalt Langenhagen bei Hannover bundesweit für Aufsehen.

Zum Hintergrund:

In der Abschiebehaft in Hannover-Langenhagen hatte sich der 58 Jahre alte Mann aus Jesteburg (Landkreis Harburg) das Leben genommen. Seine Witwe äußerte damals Zweifel über die Rechtmäßigkeit der Haft und klagte vor dem Bundesgerichtshof. Dieser gab ihr nun Recht.

Vor elf Jahren kam die Familie C. nach Niedersachsen. Ein Mann, seine Frau und der gemeinsame Sohn. Sie behaupten, aus Aserbaidschan gekommen zu sein. Sie seien geflohen, weil sie armenischer Volkszugehörigkeit seien und Angst hätten. Ein weiterer gemeinsamer Sohn sei in Aserbaidschan zum Militär eingezogen und dort ermordet worden. Nun hätten sie Angst, dass dem zweiten Sohn das gleiche Schicksal drohe. Sie haben keinerlei Papiere, nichts, was die Geschichte belegen könnte. Nicht ungewöhnlich für Flüchtlinge aus diesen Ländern.

Ein Asylantrag wird abgelehnt, aber sie können nicht abgeschoben werden, weil ihre Identität nicht feststeht. Sie werden einer von vielen Fällen der Ausländerbehörde Winsen an der Luhe. Die Familie zieht ins niedersächsische Jesteburg. Sie lebt sich schnell ein, ist beliebt bei den Nachbarn. Slawik C. versucht sich nützlich zu machen, wo er kann. Er hilft in der Kleiderkammer, im Sommer pflegt er die Gemeindegrünanlagen, hilft im Freibad, im Winter räumt er Schnee auf den öffentlichen Plätzen. Die Nachbarn, hauptsächlich Deutsche, lieben ihn, weil er immer fröhlich ist, gastfreundlich, allen zur Hand geht. In seinem Garten weht eine Deutschlandfahne, er lernt die Sprache. Wenn er sich nur so gut wie möglich integriert, werde man ihm das hoffentlich anrechnen, so hofft er.  Er würde gerne selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen, aber als sogenannter "Geduldeter" darf er nicht arbeiten.

Alle sechs Monate fährt er zur Ausländerbehörde, um seine Duldung zu verlängern. Er weiß nicht, dass die Ausländerbehörde in Winsen an der Luhe in all den Jahren fieberhaft daran arbeitet, seine Identität festzustellen, um ihn abschieben zu können. So will es das Gesetz.

Die Mitarbeiter der Behörde fragen in Aserbaidschan nach, dort ist er nicht bekannt. Damit steht für sie fest, Slawik C. hat gelogen, er kommt nicht aus Aserbaidschan. Sie schicken Interpol los, um herauszufinden, ob man ihn vielleicht in Armenien findet. Und tatsächlich, Interpol liefert - einen Mann mit gleichem Nachnamen. Aber weder Geburtstag, noch Geburtsort oder Foto stimmen überein. Trotzdem beantragt die Behörde Passersatzpapiere bei der armenischen Botschaft in Berlin - und bekommt sie. Damit ist der Fall für die Ausländerbehörde geklärt: Slawik C. ist Armenier und kann abgeschoben werden. Dass die neuen Papiere nur sehr dürftige Angaben enthalten (Geburtsort: Republic of Armenia) und den falschen Zusatznamen aus dem Interpol-Papier, stört offenbar niemanden.

Bei seinem nächsten Besuch in der Ausländerbehörde wird Slawik C. in Haft genommen. In der Zelle wird ihm vermutlich klar, dass seine Zeit in Deutschland zu Ende ist, dass er seine Frau, seinen Sohn und sein Enkelkind wohl nie wieder sehen wird. Er erhängt sich.

Quelle: ARD, Magazin Panorama v. 02.09.2010

 

Zum Volltext der Entscheidung im Gesamtdokument:

icon BGH zum Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft (1.01 MB 2011-11-27 02:24:47)

Die Presseerklärung des Prozessbevollmächtigten und die Pressemitteilung des Niedersächsischen Innenministeriums ist dem Dokument als Anlage beigefügt.

Zu den Kommentaren:

OK-MNet-AufenthG

OK-MNet-FamFG

Beitrag ARD (Panorama) vom 24.11.2011

Flüchtlingsrat Niedersachsen