BVerwG: Verschiebung des maßgeblichen Zeitpunkts bei der gerichtlichen Kontrolle von Ausweisungen

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Das BVerwG hat mit Urteil vom 15. November 2007 (1 C 45.06) die Rechtsprechung zum maßgeblichen Zeitpunkt zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Ausweisungen für Drittausländer geändert und der Rechtsprechung für Unionsbürger und türkische Staatsangehörige angenähert. Die Entscheidung beruht auf folgenden entscheidungstragenden Passagen:

"b) Nach dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes hält der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt bei der Ausweisung sonstiger Drittstaatsangehöriger nicht mehr fest. Er geht vielmehr davon aus, dass für die Beurteilung einer gerichtlich angefochtenen Ausweisung nunmehr generell - und nicht wie in der Vergangenheit nur bei einzelnen Personengruppen - auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

15 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR - bewertet bei Ausweisungen die Verhältnismäßigkeit der innerstaatlichen Entscheidungen im Hinblick auf einen möglichen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK regelmäßig vor dem Hintergrund der Situation, in der die Ausweisung rechtskräftig wurde (vgl. zuletzt Urteil vom
28. Juni 2007, Kaya ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 31753/02, InfAuslR 2007, 325, m.w.N.). Dies spricht dafür, auch schon im Rahmen der innerstaatlichen gerichtlichen Überprüfung auf einen möglichst späten Beurteilungszeitpunkt abzustellen, um auf diese Weise der durch Transformation in nationales Recht im Rang eines Bundesgesetzes stehenden Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Auslegung durch den EGMR bei der Interpretation des nationalen Rechtes so weit wie möglich Geltung zu verschaffen.

16 In diese Richtung weist auch die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen. Danach stellt jede Ausweisung aufgrund des damit verbundenen Entzugs des Auf enthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise unabhängig von weiteren mit der Ausweisung verbundenen Rechtsnachteilen und einer alsbaldigen Durchsetzbarkeit der Ausreisepflicht einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers dar. Den sich daraus ergebenden Anforderungen an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit tragen die ausländerrechtlichen Ausweisungsvorschriften mit ihrem System der Abstufung in Ist-, Regel- und Kann-Ausweisung und der Gewährung besonderen Ausweisungsschutzes für bestimmte Ausländer nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zwar grundsätzlich in ausreichender Weise Rechnung. Dies entbindet jedoch nicht davon, im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auch die Umstände des Einzelfalles zu prüfen, da nur diese Prüfung sicherstellen kann, dass die Verhältnismäßigkeit bezogen auf die Lebenssituation des betroffenen Ausländers gewahrt bleibt. Diese - unter Heranziehung der gemäß Art. 8 EMRK geltenden Maßstäbe durchzuführende - einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers und deren Abwägung gegeneinander obliegt - mit Einschränkun¬gen, die sich aus der begrenzten gerichtlichen Überprüfbarkeit behördlicher Ermessensausübung ergeben - den Verwaltungsgerichten (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007,1300). Der diese Rechtsprechung tragende Verhältnismä ßigkeitsgrundsatz spricht dafür, dass auch die Gerichte bei ihrer Entscheidung über die Anfechtung einer Ausweisung auf eine möglichst aktuelle, d.h. nicht bereits überholte Tatsachen¬grundlage abstellen.

17 Zudem wurde der Kreis derjenigen Ausländer, die kraft Gemeinschaftsrechts nur bei Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr ausgewiesen werden dürfen, in-zwischen nochmals erweitert. So dürfen nach Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 (ABl EU 2004 Nr. L 158 S. 77) - Freizügigkeitsrichtlinie - die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Auf enthaltsrecht eines Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit u.a. nur beschränken, wenn das persönliche Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Des Weiteren können nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 (ABl EU 2004 Nr. L 16 S. 44) - Daueraufenthaltsrichtlinie - nunmehr auch Drittstaatsangehörige, denen die Rechtsstellung eines langfristig Auf enthaltsberechtigten verliehen worden ist, nur ausgewiesen werden, wenn sie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellen.

18 Diesen materiellen Vorgaben entnimmt der Senat im Wege einer Gesamt-schau, dass mit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes, das u.a. der Umsetzung der beiden angeführten Richtlinien dient, nunmehr generell bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist. Dies steht nicht im Widerspruch zu der nach wie vor geltenden gesetzlichen Regelung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung (§ 11 Abs. 1 Satz 3 Auf enthG, früher § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG). Denn diese Regelung behält auch bei der Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunkts für die gerichtliche Überprüfung der Ausweisung ihre Bedeutung, weil sie es ermöglicht, auch solchen Veränderungen Rechnung zu tragen, die nach Bestandskraft der Ausweisung eintreten."

Die Entscheidung ist unter Rechtsprechung/BVerwG/AufenthG als download erhältlich.