BVerwG: Kein Anspruch auf Rücknahme bestandskräftiger Ausweisungen von Unionsbürgern

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Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass Unionsbürger keinen Anspruch darauf haben, dass rechtswidrige, aber bestandskräftig gewordene Ausweisungen von den Ausländerbehörden aufgehoben werden. Sie haben aber Anspruch auf Befristung des durch die Ausweisung ausgelösten und weiterhin geltenden Einreise- und Aufenthaltsverbots.

Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, erstrebt die Aufhebung seiner Ausweisung aus dem Jahr 1998. Er ist im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Im Zeitpunkt der Ausweisung lebte er mit einer Deutschen zusammen; die zwei aus dieser Verbindung hervorgegangenen deutschen Kinder waren noch minderjährig.

Das beklagte Land Baden-Württemberg hatte den Kläger im Jahr 1998 aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen, nachdem dieser mehrfach, insbesondere wegen Eigentums- und Vermögensdelikten, zu Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als drei Jahren verurteilt worden war. Die Ausländerbehörde war von einer sog. Regel-Ausweisung ausgegangen und hatte kein Ermessen ausgeübt. Der Kläger hatte hiergegen keine Klage erhoben und war nach Bestandskraft der Ausweisung nach Italien abgeschoben worden.

Nach unerlaubter Wiedereinreise in das Bundesgebiet und erneuter Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren u.a. wegen Diebstahls und schwerer räuberischer Erpressung beantragte er im Mai 2004 die Rücknahme der bestandskräftigen Ausweisung sowie hilfsweise die Befristung ihrer Wirkungen. Diesen Antrag lehnte das Regierungspräsidium Stuttgart im September 2004 ab. Es führte im Einzelnen aus, dass die Ausweisung rechtmäßig und deren Rücknahme deshalb ausgeschlossen sei. Eine Befristung komme wegen der vom Kläger nach wie vor ausgehenden hohen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht in Betracht. Die dagegen gerichtete Klage hatte vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim teilweise Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hielt die Ausweisung für rechtswidrig, weil sie wegen der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung des Klägers nicht ohne eine einzelfallbezogene Ermessensausübung hätte ergehen dürfen. Da die Ausländerbehörde dies bei ihrer Entscheidung über die Rücknahme der Ausweisung verkannt habe, müsse sie eine neue Ermessensentscheidung über die Rücknahme treffen. Einen zwingenden Anspruch auf Rücknahme der rechtswidrigen Ausweisung habe der Kläger dagegen nicht. Zu dem Befristungsantrag hielt der Verwaltungsgerichtshof eine Entscheidung nicht für erforderlich.

Auf die Revisionen des Klägers und des beklagten Landes hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts das Berufungsurteil hinsichtlich der Rücknahme der Ausweisung im Ergebnis bestätigt. Er hält die wegen des Bescheids vom September 2004 zur Überprüfung anstehende Ausweisung aus dem Jahre 1998 - unabhängig von Gemeinschaftsrecht - für rechtswidrig. Denn der Kläger hätte schon wegen seiner Verwurzelung im Bundesgebiet nur im Ermessenswege ausgewiesen werden dürfen. Der Senat hat seine Rechtsprechung anlässlich neuerer Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungsgerichts dahingehend weiterentwickelt, dass bei Regel-Ausweisungen ein zur Ausübung von Ermessen führender Ausnahmefall dann anzunehmen ist, wenn höherrangiges Recht unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles eine Einzelfallwürdigung gebietet. Beim Kläger lagen diese Voraussetzungen vor, weil er als Unionsbürger im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen war und im Zeitpunkt der Ausweisung mit einer Deutschen und den gemeinsamen Kindern zusammenlebte. Demzufolge war die Ausweisung rechtswidrig. Da die Behörde ihr Rücknahmeermessen nicht ausgeübt hat, muss sie über die Rücknahme erneut entscheiden; ihre Revision blieb deshalb erfolglos.

Auf der anderen Seite hat der Kläger - wie das Berufungsgericht zutreffend entschieden hat - keinen Anspruch darauf, dass die rechtswidrige Ausweisung von der Ausländerbehörde in jedem Fall aufgehoben wird. Die Aufrechterhaltung der Ausweisung erweist sich trotz ihrer Rechtswidrigkeit nicht als "schlechthin unerträglich", so dass bei der Ausübung des Rücknahmeermessens dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit kein größeres Gewicht zukommt als dem Prinzip der Rechtssicherheit. Insoweit hatte die Revision des Klägers keinen Erfolg.

Auf seine Revision wurde die Sache aber wegen des hilfsweise gestellten Befristungsantrags an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Über diesen Hilfsantrag hätte der Verwaltungsgerichtshof bei sachdienlicher Auslegung des Klageantrags entscheiden müssen, da der Kläger mit seinem Hauptantrag nur teilweise Erfolg gehabt hat. Diese Prüfung wird er nun nachholen müssen.

BVerwG 1 C 10.07 – Urteil vom 23. Oktober 2007

Quelle: Presseerklärung des BVerwG