BVerwG kippt Pauschale nach § 30 SGB II bei Lebensunterhaltssicherung

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Will ein Ausländer zu seinem bereits in Deutschland lebenden ausländischen Ehepartner nachziehen, muss grundsätzlich der Unterhaltsbedarf beider Eheleute sowie der mit ihnen zusammen lebenden minderjährigen Kinder gedeckt sein. Es reicht nicht aus, wenn der nachziehende Ehegatte mit seinen Einkünften bei isolierter Betrachtung zwar seinen eigenen Bedarf sicherstellen könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber auf öffentliche Sozialleistungen angewiesen ist. Das hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig heute entschieden (BVerwG 1 C 20.09).

Der Entscheidung lag der Fall eines 37-jährigen türkischen Staatsangehörigen zugrunde, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte nach § 30 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erstrebt. Er heiratete 2002 eine in Deutschland lebende Türkin, mit der er drei Kinder hat. 2005 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. Nachdem der Kläger für sich, seine Ehefrau und seinen jüngsten Sohn ab September 2006 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) bezogen hatte, versagte das beklagte Land Berlin 2008 dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis. Das Verwaltungsgericht Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat das beklagte Land hingegen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Es war der Auffassung, dass es für die Sicherung des Lebensunterhalts genüge, wenn der Unterhaltsbedarf des nachziehenden Ausländers selbst gedeckt sei. Das sei hier der Fall, denn das Einkommen des Klägers reiche mittlerweile für seinen eigenen Bedarf aus, wenn auch nicht für den der Ehefrau und des minderjährigen Sohnes.

Das Bundesverwaltungsgericht hat das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und entschieden, dass ein Anspruch auf Familiennachzug in der Regel voraussetzt, dass jedenfalls der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft - hier: des Klägers, seiner Ehefrau und des minderjährigen Sohnes - ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Das ist hier nicht der Fall, vielmehr bezieht die Familie weiterhin Sozialleistungen nach dem SGB II. Dass es auf den Unterhaltsbedarf der Bedarfsgemeinschaft ankommt, ergibt sich daraus, dass das Aufenthaltsgesetz insoweit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweist, die bei erwerbstätigen Personen nach den Regeln des SGB II zu ermitteln sind (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dieser Verweis umfasst grundsätzlich auch die dortigen Regeln über die Hilfebedürftigkeit und die Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB II. Dass der Gesetzgeber beim Familiennachzug von einer Gesamtbetrachtung der Familie ausgeht, bestätigt auch die Regelung, nach der beim Familiennachzug Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen zu berücksichtigen sind (§ 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die Einkünfte des Nachziehenden dienen daher nicht der vorrangigen Deckung seines eigenen Bedarfs.

Da es sich bei der Sicherung des Lebensunterhalts um eine Regelerteilungs-voraussetzung handelt (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), bleibt allerdings zu prüfen, ob hiervon eine Ausnahme zu machen ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) es gebieten. Hierbei ist neben dem Grad der Integration der Familie in Deutschland auch zu berücksichtigen, wie hoch der verbleibende Anspruch der Familie auf Sozialleistungen ist und in welchem Umfang der Nachziehende zum Familienunterhalt beiträgt. In diesem Zusammenhang hat der Senat ausgeführt, dass bei der Berechnung des Unterhaltsbedarfs im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II) nicht zu Lasten des Ausländers anzurechnen ist. Insoweit entsprach der Senat der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Bei der Werbungskostenpauschale (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II) wird dem Gebot der individuellen Prüfung des tatsächlichen Bedarfs dadurch Rechnung getragen, dass der Ausländer einen geringeren Bedarf als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachweisen kann. Da das Berufungsurteil zum Vorliegen eines Ausnahmefalles keine Feststellungen enthält, war das Verfahren zur weiteren Aufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

In einem weiteren Verfahren (BVerwG 1 C 21.09) hat der 1. Revisionssenat entschieden, dass es auch für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG, also eines unbefristeten nationalen Aufenthaltstitels, erforderlich ist, dass der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft, in der der Ausländer lebt, ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Hier sind der Freibetrag für Erwerbstätige und die Werbungskostenpauschale weiterhin zu Lasten des Ausländers anzusetzen.

BVerwG 1 C 20.09 und 1 C 21.09 - Urteile vom 16. November 2010 -

Vorinstanzen im Verfahren BVerwG 1 C 20.09:
VG Berlin, VG 11 A 159.08 - Urteil vom 5.11.2008 -
OVG Berlin-Brandenburg, OVG 11 B 1.09 - Urteil vom 27. August 2009 -

§ 9 Abs. 2 SGB II lautet: "Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Ist in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig."

Will ein Ausländer zu seinem bereits in Deutschland lebenden ausländischen Ehepartner nachziehen, muss grundsätzlich der Unterhaltsbedarf beider Eheleute sowie der mit ihnen zusammen lebenden minderjährigen Kinder gedeckt sein. Es reicht nicht aus, wenn der nachziehende Ehegatte mit seinen Einkünften bei isolierter Betrachtung zwar seinen eigenen Bedarf sicherstellen könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber auf öffentliche Sozialleistungen angewiesen ist. Das hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig heute entschieden (BVerwG 1 C 20.09).

Der Entscheidung lag der Fall eines 37-jährigen türkischen Staatsangehörigen zugrunde, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte nach § 30 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erstrebt. Er heiratete 2002 eine in Deutschland lebende Türkin, mit der er drei Kinder hat. 2005 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. Nachdem der Kläger für sich, seine Ehefrau und seinen jüngsten Sohn ab September 2006 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) bezogen hatte, versagte das beklagte Land Berlin 2008 dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis. Das Verwaltungsgericht Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat das beklagte Land hingegen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Es war der Auffassung, dass es für die Sicherung des Lebensunterhalts genüge, wenn der Unterhaltsbedarf des nachziehenden Ausländers selbst gedeckt sei. Das sei hier der Fall, denn das Einkommen des Klägers reiche mittlerweile für seinen eigenen Bedarf aus, wenn auch nicht für den der Ehefrau und des minderjährigen Sohnes.

Das Bundesverwaltungsgericht hat das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und entschieden, dass ein Anspruch auf Familiennachzug in der Regel voraussetzt, dass jedenfalls der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft - hier: des Klägers, seiner Ehefrau und des minderjährigen Sohnes - ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Das ist hier nicht der Fall, vielmehr bezieht die Familie weiterhin Sozialleistungen nach dem SGB II. Dass es auf den Unterhaltsbedarf der Bedarfsgemeinschaft ankommt, ergibt sich daraus, dass das Aufenthaltsgesetz insoweit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweist, die bei erwerbstätigen Personen nach den Regeln des SGB II zu ermitteln sind (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dieser Verweis umfasst grundsätzlich auch die dortigen Regeln über die Hilfebedürftigkeit und die Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB II. Dass der Gesetzgeber beim Familiennachzug von einer Gesamtbetrachtung der Familie ausgeht, bestätigt auch die Regelung, nach der beim Familiennachzug Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen zu berücksichtigen sind (§ 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die Einkünfte des Nachziehenden dienen daher nicht der vorrangigen Deckung seines eigenen Bedarfs.

Da es sich bei der Sicherung des Lebensunterhalts um eine Regelerteilungs-voraussetzung handelt (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), bleibt allerdings zu prüfen, ob hiervon eine Ausnahme zu machen ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) es gebieten. Hierbei ist neben dem Grad der Integration der Familie in Deutschland auch zu berücksichtigen, wie hoch der verbleibende Anspruch der Familie auf Sozialleistungen ist und in welchem Umfang der Nachziehende zum Familienunterhalt beiträgt. In diesem Zusammenhang hat der Senat ausgeführt, dass bei der Berechnung des Unterhaltsbedarfs im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II) nicht zu Lasten des Ausländers anzurechnen ist. Insoweit entsprach der Senat der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Bei der Werbungskostenpauschale (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II) wird dem Gebot der individuellen Prüfung des tatsächlichen Bedarfs dadurch Rechnung getragen, dass der Ausländer einen geringeren Bedarf als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachweisen kann. Da das Berufungsurteil zum Vorliegen eines Ausnahmefalles keine Feststellungen enthält, war das Verfahren zur weiteren Aufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

In einem weiteren Verfahren (BVerwG 1 C 21.09) hat der 1. Revisionssenat entschieden, dass es auch für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG, also eines unbefristeten nationalen Aufenthaltstitels, erforderlich ist, dass der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft, in der der Ausländer lebt, ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Hier sind der Freibetrag für Erwerbstätige und die Werbungskostenpauschale weiterhin zu Lasten des Ausländers anzusetzen.

BVerwG 1 C 20.09 und 1 C 21.09 - Urteile vom 16. November 2010 -

Vorinstanzen im Verfahren BVerwG 1 C 20.09:
VG Berlin, VG 11 A 159.08 - Urteil vom 5.11.2008 -
OVG Berlin-Brandenburg, OVG 11 B 1.09 - Urteil vom 27. August 2009 -

§ 9 Abs. 2 SGB II lautet: "Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Ist in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig."

Das BVerwG hat mit seinen Entscheidungen vom 16. November 2010 (BVerwG 1 C 20.09 und 1 C 21.09) zum Familiennachzug die Anforderungen an den Lebensunterhalt beim Familiennachzug und bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis geklärt. Dabei wurde klargestellt, dass die Pauschale nach § 30 SGB II zukünftig bei der Berechnung des Lebensunterhalts nicht berücksichtigt werden darf.

Will ein Ausländer zu seinem bereits in Deutschland lebenden ausländischen Ehepartner nachziehen, muss grundsätzlich der Unterhaltsbedarf beider Eheleute sowie der mit ihnen zusammen lebenden minderjährigen Kinder gedeckt sein. Es reicht nicht aus, wenn der nachziehende Ehegatte mit seinen Einkünften bei isolierter Betrachtung zwar seinen eigenen Bedarf sicherstellen könnte, er für seinen Ehepartner und seine Kinder aber auf öffentliche Sozialleistungen angewiesen ist. Das hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig heute entschieden (BVerwG 1 C 20.09).

Der Entscheidung lag der Fall eines 37-jährigen türkischen Staatsangehörigen zugrunde, der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte nach § 30 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erstrebt. Er heiratete 2002 eine in Deutschland lebende Türkin, mit der er drei Kinder hat. 2005 reiste er mit einem Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. Nachdem der Kläger für sich, seine Ehefrau und seinen jüngsten Sohn ab September 2006 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) bezogen hatte, versagte das beklagte Land Berlin 2008 dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis. Das Verwaltungsgericht Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat das beklagte Land hingegen zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verpflichtet. Es war der Auffassung, dass es für die Sicherung des Lebensunterhalts genüge, wenn der Unterhaltsbedarf des nachziehenden Ausländers selbst gedeckt sei. Das sei hier der Fall, denn das Einkommen des Klägers reiche mittlerweile für seinen eigenen Bedarf aus, wenn auch nicht für den der Ehefrau und des minderjährigen Sohnes.

Das Bundesverwaltungsgericht hat das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und entschieden, dass ein Anspruch auf Familiennachzug in der Regel voraussetzt, dass jedenfalls der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft - hier: des Klägers, seiner Ehefrau und des minderjährigen Sohnes - ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Das ist hier nicht der Fall, vielmehr bezieht die Familie weiterhin Sozialleistungen nach dem SGB II. Dass es auf den Unterhaltsbedarf der Bedarfsgemeinschaft ankommt, ergibt sich daraus, dass das Aufenthaltsgesetz insoweit auf die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verweist, die bei erwerbstätigen Personen nach den Regeln des SGB II zu ermitteln sind (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dieser Verweis umfasst grundsätzlich auch die dortigen Regeln über die Hilfebedürftigkeit und die Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 9 Abs. 2 SGB II. Dass der Gesetzgeber beim Familiennachzug von einer Gesamtbetrachtung der Familie ausgeht, bestätigt auch die Regelung, nach der beim Familiennachzug Beiträge der Familienangehörigen zum Haushaltseinkommen zu berücksichtigen sind (§ 2 Abs. 3 Satz 4 AufenthG). Die Einkünfte des Nachziehenden dienen daher nicht der vorrangigen Deckung seines eigenen Bedarfs.

Da es sich bei der Sicherung des Lebensunterhalts um eine Regelerteilungsvoraussetzung handelt (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), bleibt allerdings zu prüfen, ob hiervon eine Ausnahme zu machen ist. Dies ist insbesondere der Fall, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) es gebieten. Hierbei ist neben dem Grad der Integration der Familie in Deutschland auch zu berücksichtigen, wie hoch der verbleibende Anspruch der Familie auf Sozialleistungen ist und in welchem Umfang der Nachziehende zum Familienunterhalt beiträgt. In diesem Zusammenhang hat der Senat ausgeführt, dass bei der Berechnung des Unterhaltsbedarfs im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie der Freibetrag für Erwerbstätige (§ 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II) nicht zu Lasten des Ausländers anzurechnen ist. Insoweit entsprach der Senat der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Bei der Werbungskostenpauschale (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II) wird dem Gebot der individuellen Prüfung des tatsächlichen Bedarfs dadurch Rechnung getragen, dass der Ausländer einen geringeren Bedarf als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachweisen kann. Da das Berufungsurteil zum Vorliegen eines Ausnahmefalles keine Feststellungen enthält, war das Verfahren zur weiteren Aufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

Siehe hierzu den Beitrag zur Familienzusammenführungsrichtlinie

In einem weiteren Verfahren (BVerwG 1 C 21.09) hat der 1. Revisionssenat entschieden, dass es auch für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG, also eines unbefristeten nationalen Aufenthaltstitels, erforderlich ist, dass der Lebensunterhalt der familiären Bedarfsgemeinschaft, in der der Ausländer lebt, ohne Inanspruchnahme öffentlicher Sozialleistungen bestritten werden kann. Hier sind der Freibetrag für Erwerbstätige und die Werbungskostenpauschale weiterhin zu Lasten des Ausländers anzusetzen.

Anmerkung

Mit der Entscheidung, die Freibeträge nach § 30 SGB II zukünftig bei Nachzugfällen nicht zu berücksichtigen, trägt das BVerwG zum Teil dem Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE (BT-Drucksache 17/1557)  Rechnung. Dieser sieht vor, dass in § 2 Abs. 3 in Satz 2 nach dem Wort „Elterngeld“ folgende Wörter eingefügt werden: „… Freibeträge im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, die eine Erwerbsfähigkeit fördern sollen,“.

Für die Ermittlung des erforderlichen Einkommens sind die Bedarfssätze nach dem SGB II zugrunde zu legen, d. h. die einer Bedarfsgemeinschaft zustehenden Regelsätze zuzüglich der Kosten der angemessenen Unterkunft und Heizung. Nach der Rechtsprechung des BVerwG sind von dem nach § 11 Abs. 1 SGB II zu ermittelnden Bruttoeinkommen die in § 11 Abs. 2 genannten Beträge abzuziehen. Hierzu gehören auch der Erwerbstätigenfreibetrag gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II und die Werbungskostenpauschale in Höhe von 100 €. Der Berücksichtigung dieser Freibeträge steht nach Ansicht des BVerwG nicht entgegen, dass es sich hierbei um arbeitsmarktpolitische Maßnahmen handelt, durch die ein Anreiz zur Aufnahme oder Beibehaltung einer nicht bedarfsdeckenden Erwerbstätigkeit geschaffen werden soll.
Mit der geplanten Änderung soll einer Erhöhung der Schwelle der Lebensunterhaltssicherung durch Berücksichtigung von Freibeträgen, die Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung schaffen sollen, vermieden werden. Zugleich soll ein Widerspruch zur Familienzusammenführungsrichtlinie ausgeschlossen werden.

Dem Entscheidung des 1. Senats ist zuzustimmen, da die Berücksichtigung der beschäftigungsbezogenen Freibeträge, die eine staatliche Subventionierung nicht bedarfsdeckender Beschäftigungsverhältnisse darstellt, mit EU-Recht unvereinbar ist. Der EuGH hat mit Urteil vom 4. März 2010 in der Rechtssache C-578/08 (Rhimou Chakroun) eine grundlegende Entscheidung zu den Anforderungen der Lebensunterhaltssicherung nach der Familienzusammenführungsrichtlinie (Richtlinie 2003/86/EG) beim Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen getroffen.

Auch wenn das Urteil maßgeblich auf zwei Besonderheiten des niederländischen Sozialhilfe- und Aufenthaltsrechts beruht, die in Deutschland nicht gegeben sind, lässt es die Unvereinbarkeit der Regelung über die Lebensunterhaltssicherung mit EU-Recht erkennen. Der EuGH hat klargestellt, dass die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt, sodass die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie verankerte Voraussetzung der Lebensunterhaltsdeckung eng auszulegen ist. Der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum bei der Bestimmung der Höhe der erforderlichen Lebensunterhaltssicherung dürfe nicht in einer Weise genutzt werden, die das Richtlinienziel – die Begünstigung der Familienzusammenführung – und die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtige.

Der Gerichtshof stellt dabei klar, dass der Begriff „Sozialhilfeleistungen des … Mitgliedstaats“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der nicht anhand von Begriffen des nationalen Rechts ausgelegt werden kann. Dabei hat er erkennen lassen, dass das Erfordernis einer Lebensunterhaltsdeckung nur den Mindestbetrag abdecken soll. Soweit die Mitgliedstaaten mit der Lebensunterhaltsdeckung zugleich außergewöhnliche oder unvorhergesehene Bedürfnisse zu befriedigen wollen, ist die damit verbundene Erschwerung des Familiennachzugs nicht zulässig. Gleiches gilt nach meiner Einschätzung in Bezug auf die Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung, für die nach dem SGB II spezielle Freibeträge eingeführt wurden.

Ergebnis: Die mit den Freibetrag nach § 30 SGB II de facto geregelte staatliche Subventionierung nicht bedarfsdeckender Beschäftigungsverhältnisse beeinträchtigt die Wirksamkeit der Richtlinie und ist daher mit der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht vereinbar.

Darüber hinaus sollte bei einer fehlenden Lebensunterhaltssicherung beim Familiennachzug eine Ermessensentscheidung vorgeschrieben werden, da die ergebnisbezogene Atypikprüfung, die im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG angelegt ist, der zwingenden Berücksichtigung des Einzelfalls auch in „Normalfällen“ nicht genügt.

Gegen die bisherige Praxis wird vom EuGH klargestellt, dass eine automatische Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung ohne Einzelfallprüfung beim Unterschreiten des Mindestbetrags für die Lebensunterhaltssicherung mit EU-Recht unvereinbar ist: „Da der Umfang der Bedürfnisse sehr individuell sein kann, ist diese Befugnis ferner dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten einen bestimmten Betrag als Richtbetrag angeben können, jedoch ist sie nicht dahin zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten ein Mindesteinkommen vorgeben könnten, unterhalb dessen jede Familienzusammenführung abgelehnt würde, und dies ohne eine konkrete Prüfung der Situation des einzelnen Antragstellers. Diese Auslegung wird durch Art. 17 der Richtlinie gestützt, der eine individualisierte Prüfung der Anträge auf Zusammenführung verlangt.“

Die Systematik der Richtlinie geht nicht von einer automatischen Sperre bei einem drohenden Sozialleistungsbezug aus. Fehlen die erforderlichen Mittel des Zusammenführenden, um unabhängig von Sozialleistungen leben zu können, so führt dies nicht zu einer Regelnachzugssperre. Denn Art. 17 RL 2003/86/EG fordert in allen Fällen der Ablehnung eines Antrags auf Familiennachzug eine Einzelfallabwägung.

Der Maßstab ist damit nicht ergebnisbezogen: Eine Ermessensentscheidung ist nicht nur erforderlich, wenn eine Unvereinbarkeit der Versagung des Familiennachzugs mit Art. 8 EMRK wegen fehlender Lebensunterhaltsdeckung vorliegt, sondern bereits in jedem Nachzugsfall, in dem die Herstellung der Familieneinheit an der fehlenden Lebensunterhaltsdeckung scheitert.
Diesen Anforderungen wird das geltende Recht nicht gerecht.

Es bleibt abzuwarten, ob der 1. Senat daran festhält, dass ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nur angenommen werden kann, „wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug geboten ist, z. B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist“. Damit wurde der Ausnahmefall auf besondere, atypische Umstände reduziert, bei denen insbesondere eine Herstellung der Familieneinheit ausschließlich im Bundesgebiet möglich ist (sog. „elsewhere approach“).

Hinweis

 § 9 Abs. 2 SGB II lautet: "Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Ist in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig."