EGMR: Anspruch auf Familieneinheit bei Unmöglichkeit der Abschiebung

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Der EGMR hat in der Rechtssache Agraw gegen die Schweiz mit Urteil vom 29.7.2010 (Kammer I, Beschwerdenummer 3.295/06) entschieden, dass abgelehnte Asylbewerber einen Anspruch auf Familieneinheit haben, wenn ihre Abschiebung längere Zeit unmöglich ist.

Gründe wie die gerechte Verteilung von Asylwerbern auf verschiedene Landesteile (im vorliegenden Fall Kantone) rechtfertigen es nicht, Ehepaaren, deren Asylantrag abgelehnt, deren Abschiebung in ihr Heimatland aber auf längere Zeit nicht möglich ist, über Jahre hinweg ein Zusammenleben im selben Landesteil zu verweigern. Eine solche Maßnahme steht dem Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK entgegen, das in Bezug auf Eheleute besonders auch das eheliche Zusammenleben schützt.

Die Entscheidungen, die die Beschwerdeführerin davon abhielten, mit ihrem Mann zusammenzuleben, waren auf Art. 27 Schweizer Asylgesetz gestützt, dessen Abs. 3 vorsieht, dass das Bundesamt bei der Zuweisung von Asylwerbern vor allem die legitimen Interessen der Kantone zu berücksichtigen hat. Was das Vorliegen eines legitimen Ziels betrifft, so ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die verweigerte Änderung der kantonalen Zuweisung darauf abzielte, Asylbewerber gerecht auf die Kantone zu verteilen. Soweit sich dieses Interesse dem Begriff des »wirtschaftlichen Wohls des Landes« zuordnen lässt, wurde mit der strittigen Maßnahme ein in Art. 8 Abs. 2 EMRK genanntes legitimes Ziel verfolgt.

Den Behörden ist sicherlich in gewissem Maße ein Interesse daran zuzugestehen, den Status abgewiesener Asylbewerber nicht zu ändern. Hier ist aber wichtig anzumerken, dass die Durchführung der Abschiebung der Beschwerdeführerin und ihres Mannes unmöglich und das Paar daran gehindert war, in ihr Herkunftsland zurückzukehren und so ein Familienleben außerhalb der Schweiz zu begründen.

Nach Ansicht des Gerichtshofs hätte die Zuweisung der Beschwerdeführerin in den Kanton Waadt – auch wenn das Ziel der gleichmäßigen Verteilung von Asylbewerbern vielleicht als Maßnahme zur Wahrung des wirtschaftlichen Wohls des Landes angesehen werden kann – weder eine besondere Auswirkung auf die Anzahl der in diesem Kanton zugewiesenen Fremden gehabt, noch die gerechte Verteilung von Asylbewerbern gestört oder die öffentliche Ordnung verletzt. Die positiven Effekte des vom Staat angewendeten Systems haben vorliegend weit weniger Gewicht als die Interessen der Beschwerdeführerin. Sicher bedingt die Zuweisung von einem Kanton in einen anderen einen gewissen Verwaltungsaufwand, doch geht das Interesse der Beschwerdeführerin, mit ihrem Ehemann zusammenzuleben, vor.

Aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls und in Anbetracht der vielen Jahre, während derer die Beschwerdeführerin ausdrücklich an einem Zusammenleben mit ihrem Ehemann gehindert wurde, befindet der GH, dass die strittige Maßnahme nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war und daher eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegt