EGMR: Kein Befristungsgebot aus Art. 8 EMRK bei Ausweisung von im Bundesgebiet geborenen Ausländern

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In der Rechtssache Kaya ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 31753/02) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Erste Sektion) als Kammer mit Urteil vom 28. Juni 2007 eine unbefristete Ausweisung eines im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen türkischen Staatsangehörigen für mit Art. 8 EMRK verhältnismäßig erklärt. Damit ist die in der Literatur häufig erhobene Forderung, alle Ausweisungen müssten befristet werden, nicht weiter haltbar. Die Frage der Befristung der Ausweisung ist vielmehr – wie auch das BVerfG mit seinen Beschlüssen vom 10.6.2007 und 10.8.2007 hervorgehoben hat – eine Frage der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer wurde in Mannheim, Deutschland, geboren, wo er mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester lebte und die Schule besuchte. Zu einem nicht genannten Zeitpunkt kam der Bruder des Beschwerdeführers bei einem Unfall ums Leben. Seine Eltern halten sich seit über 30 Jahren rechtmäßig in Deutschland auf. Nach seinem eigenen Vorbringen hat der Beschwerdeführer die Türkei nur zwei oder drei Mal während des Urlaubs besucht. Am 19. Mai 1994 erteilten die zuständigen Behörden dem Beschwerdeführer eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. 1998 schloss der Beschwerdeführer seine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker ab. Im Juli 1998 arbeitete er drei oder vier Wochen lang in der Türkei.

Am 8. September 1999 verurteilte das Amtsgericht Mannheim den Beschwerdeführer wegen versuchten schweren Menschenhandels in zwei Fällen, Körperverletzung und schwerer gefährlicher Körperverletzung in mehreren Fällen, Zuhälterei, unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln, Trunkenheit im Verkehr in zwei Fällen sowie Beleidigung in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten. Das Amtsgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer zwischen Juni 1998 und Januar 1999 seine frühere Lebensgefährtin gezwungen hatte, ihm einen Großteil ihrer durch Prostitution erlangten Einnahmen auszuhändigen. Dazu habe er körperliche Gewalt angewendet, wobei er in einem Fall mit dem beschuhten Fuß in das Gesicht der Frau getreten habe. Im Januar 1999 habe der Beschwerdeführer – zusammen mit zwei Komplizen, einschließlich seiner früheren Lebensgefährtin – zweimal versucht, eine andere Frau zur Prostitution zu zwingen. Der Beschwerdeführer und sein männlicher Komplize hätten mit den Einnahmen ihren Lebensunterhalt und ihren Drogenkonsum finanzieren wollen.

Am 23. November 1999 ordnete das Regierungspräsidium Karlsruhe die Ausweisung des Beschwerdeführers in die Türkei an. Die Abschiebung wurde für den Zeitpunkt nach seiner Haftentlassung angekündigt. Mit Urteil vom 24. Februar 2000 wies das Verwaltungsgericht die Klage des Beschwerdeführers gegen die Ausweisung ab. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg abgelehnt.

Am 20. Mai 2002 heiratete der Beschwerdeführer eine deutsche Staatsangehörige türkischer Abstammung, die in Deutschland wohnhaft ist. Am 28. Dezember 2003 bekam das Paar ein Kind. Am 16. September 2002 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Befristung seiner Ausweisung. Am 19. Juli 2004 befristete das Regierungspräsidium Karlsruhe die Wirkung der Ausweisung des Beschwerdeführers auf den 5. Oktober 2006, d.h. auf fünf Jahre nach seiner Abschiebung.
  
Würdigung durch den Gerichtshof:

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung der Zeitpunkt sei, in dem Ausweisung rechtskräftig geworden sei. Die Frage, wann die Ausweisung rechtskräftig wurde, müsse unter Anwendung des innerstaatlichen Rechts entschieden werden. Da der Gerichtshof die Verhältnismäßigkeit der innerstaatlichen Entscheidungen vor dem Hintergrund der Situation, als die Ausweisung im März 2001 endgültig wurde, bewerten müsse, könne der Beschwerdeführer seine Beziehung mit seiner deutschen Frau, die er erst nach seiner Abschiebung in die Türkei heiratete, und zu ihrem anschließend geborenen Kind nicht geltend machen.
  
Bezüglich der Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Maßnahme stellt der Gerichtshof schließlich fest, dass die gegen den Beschwerdeführer ergangene Ausweisungsverfügung zunächst nicht zeitlich begrenzt war. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass er Aufenthaltsverbote bereits mehrfach aufgrund ihrer unbegrenzten Dauer für unverhältnismäßig befunden hat, (siehe z.B. Ezzouhdi ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 47160/99, Rdnr. 35, 13. Februar 2001; Yilmaz, a.a.O., Rdnr. 48-49, 17. April 2003; Radovanovic ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 42703/98, Rdnr. 37, 22. April 2004; und Keles ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 32231/02, Rdnr. 66, 27. Oktober 2005) während er in anderen Fällen die Befristung eines Aufenthaltsverbots als einen Faktor betrachtet hat, der für die Verhältnismäßigkeit des Verbots spricht (siehe Benhebba ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 53441/99, Rdnr. 37; Jankov ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 35112/92, 13. Januar 2000; und Üner, a.a.O., Rdnr. 65).
   
Der Gerichtshof erkennt an, dass die gegen den Beschwerdeführer ergangene Ausweisungsverfügung schwerwiegende Auswirkungen auf sein Privatleben und die Beziehung zu seinen Eltern hatte. Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles und insbesondere der Schwere der Straftaten des Beschwerdeführers, die nicht nur als typische Jugendverfehlungen verharmlost werden könnten, ist der Gerichtshof nicht der Auffassung, dass der beklagte Staat seinen eigenen Interessen zu viel Gewicht beigemessen habe, als er beschloss, diese Maßnahme zu verhängen.  Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen befindet der Gerichtshof, dass in diesem Fall ein ausgewogenes Gleichgewicht geschaffen worden sei, da die Ausweisung des Beschwerdeführers in Bezug auf die verfolgten Ziele verhältnismäßig und demnach in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei. Folglich sei Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

Link zur Entscheidung.

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