Der EuGH hat entschieden, dass ein Asylbewerber nach nationalem Recht im Hinblick auf seine Abschiebung wegen illegalen Aufenthalts in Haft behalten werden kann, wenn der Asylantrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden.
Rechtssache C-534/11 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht der Tschechischen Republik in dem Verfahren Mehmet Arslan
gegen Policie CR, Krajské reditelství policie Ústeckého kraje, odbor cizinecké policie.
- Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist in Verbindung mit deren neuntem Erwägungsgrund dahin auszulegen, dass diese Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft um internationalen Schutz ersucht hat, im Zeitraum zwischen der Antragstellung bis zum Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung über diesen Antrag oder gegebenenfalls bis zur Entscheidung über einen allfälligen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung keine Anwendung findet.
- Die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten und die Richtlinie 2005/85 stehen dem nicht entgegen, dass die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen, der im Sinne der Richtlinie 2005/85 um internationalen Schutz ersucht hat, nachdem er gemäß Art. 15 der Richtlinie 2008/115 in Haft genommen worden war, auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift aufrechterhalten wird, wenn sich nach einer fallspezifischen Beurteilung sämtlicher relevanter Umstände herausstellt, dass dieser Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt wurde, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden, und es objektiv erforderlich ist, die Haftmaßnahme aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass sich der Betreffende endgültig seiner Rückführung entzieht.
Die nationalen Behörden haben jedoch fallspezifisch zu prüfen, ob dies zutrifft und ob es objektiv erforderlich und verhältnismäßig ist, die Haft des Asylbewerbers aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass er endgültig seiner Rückführung entgeht.
Die Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348, S. 98) schafft gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Abschiebung von in ihrem Hoheitsgebiet illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen. Diese Drittstaatsangehörigen können unter bestimmten Voraussetzungen für einen Zeitraum, der im Allgemeinen sechs Monate nicht überschreitet, inhaftiert werden, um den ordnungsgemäßen Ablauf ihrer Abschiebung zu gewährleisten.
Herr Arslan, ein türkischer Staatsangehöriger, wurde von der tschechischen Polizei wegen illegalen Aufenthalts festgenommen und inhaftiert. Am darauffolgenden Tag erließen die tschechischen Behörden eine Abschiebungsentscheidung gegen ihn und setzten einige Tage später mit einer zweiten Entscheidung die Dauer seiner Haft auf 60 Tage fest, was sie mit der Vermutung begründeten, dass Herr Arslan die Abschiebung vereiteln würde. In der zweiten Entscheidung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Betreffende unter Umgehung der Grenzkontrollen heimlich in den Schengen-Raum eingereist sei und sich ohne Reisedokument und Visum in Österreich und in der Tschechischen Republik aufgehalten habe. Ferner ging aus dieser Entscheidung hervor, dass Herr Arslan bereits 2009 im Besitz eines falschen Reisepasses im griechischen Hoheitsgebiet von der Polizei aufgegriffen, in der Folge in sein Herkunftsland zurückgeschickt und in das Schengener Informationssystem als Person aufgenommen worden war, der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Staaten des Schengen-Raums in der Zeit vom 26.01.2010 bis zum 26.01.2013 untersagt war.
Am Tag des Erlasses dieser Entscheidung stellte Herr Arslan einen Asylantrag. Während dieser Antrag geprüft wurde, wurde die Haft um 120 Tage verlängert. Herr Arslan ficht vor den tschechischen Gerichten die Rechtmäßigkeit dieser letzten Entscheidung über die Verlängerung seiner Haft an. In der Zwischenzeit ist er wegen Erreichens der Höchstdauer von sechs Monaten entlassen worden, und sein Asylantrag ist im Übrigen abgelehnt worden.
Der mit dem Rechtsstreit befasste Nejvyšší správní soud (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Tschechische Republik) hat dem EuGH die Frage gestellt, ob ein Asylbewerber zum Zweck der Abschiebung aus dem Gebiet der Union wegen illegalen Aufenthalts rechtmäßig in Haft behalten werden könne. Der EuGH hat festgestellt, dass ein Asylbewerber das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet des für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaats zumindest bis zur erstinstanzlichen Ablehnung dieses Antrags aufzuhalten. Nach Auffassung des EuGH kann er daher während dieses Zeitraums nicht als in diesem Staat illegal aufhältig angesehen werden. Die Mitgliedstaaten könnten dieses Recht sogar ausweite, indem sie den Asylwerbern gestatteten, sich bis zum Erlass einer endgültigen Entscheidung über ihren Antrag in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten. Derzeit sei es Sache der Mitgliedstaaten, unter vollständiger Einhaltung ihrer Verpflichtungen sowohl aus dem Völkerrecht als auch aus dem Unionsrecht die Gründe festzulegen, aus denen ein Asylbewerber inhaftiert oder in Haft gehalten werden kann.
Herr Arslan sei im vorliegenden Fall mit der Begründung inhaftiert worden, dass sein Verhalten Anlass zur Befürchtung gebe, dass er fliehen würde, und dass er seinen Asylantrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt zu haben scheine, den Vollzug der gegen ihn erlassenen Rückführungsentscheidung zu verzögern, wenn nicht gar zu gefährden. Solche Umstände könnten aber tatsächlich die Aufrechterhaltung der Haft auch nach Stellung eines Asylantrags rechtfertigen. Denn die Haft sei nicht die Folge der Stellung des Asylantrags, sondern der Umstände, die das individuelle Verhalten des Antragstellers vor und bei Stellung des Antrags kennzeichneten. Zudem sei diese Haft erforderlich, um zu verhindern, dass der Betreffende endgültig seiner Abschiebung aus dem Gebiet der Union entgehe, und somit erforderlich, um die praktische Wirksamkeit der Vorschriften über die Rückführung illegal aufhältiger Personen zu gewährleisten. Der alleinige Umstand, dass gegen einen Asylbewerber im Zeitpunkt seiner Antragstellung eine Rückführungsentscheidung erlassen und er inhaftiert werde, lasse nicht die Vermutung zu, dass er diesen Antrag einzig und allein zu dem Zweck gestellt habe, den Vollzug der Rückführungsentscheidung zu verzögern oder zu gefährden. Ob die Stellung des Asylantrags eventuell missbräuchlich sei, müsse demnach fallspezifisch geprüft werden. Die nationalen Behörden hätten auch zu beurteilen, ob es objektiv erforderlich und verhältnismäßig sei den Asylbewerber weiter in Haft zu behalten.
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