Amtsgericht Hannover: Freispruch eines türkischen Staatsangehörigen wegen Soysal-Entscheidung

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Das Amtsgericht Hannover (286 Os 7911 Js 100048/10 (123/10)) spricht einen türkischen Staatsangehörigen im Hinblick auf die Soysal-Entscheidung des EuGH von dem Vorwurf der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet frei.

Der zurzeit 26-jährige Angeklagte ist ledig, hat keine Kinder und war zuletzt in Polen im Kfz-Handwerk tätig, womit er ein monatliches Durchschnittseinkommen von umgerechnet etwa 250,-- € netto erzielte. Seit dem 28. 11. 2010 befindet er sich aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Hannover vom 29. 11. 2010 (44 XIV 147/10) in Abschiebehaft in der JVA Langenhagen. Er ist in Deutschland nicht vorbestraft.

Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten zur Last gelegt, in Hannover am 28. 11. 2010 und in der Zeit davor

  • sich entgegen § 3 Abs. 1 AufenthG i. V. mit § 48 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten zu haben,
  • sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten zu haben, obwohl er vollziehbar ausreisepflichtig ist und seine Abschiebung nicht ausgesetzt wurde.

Der Angeklagte ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 10. 1. 2002 in das Bundesgebiet ein und stellte am 18. 3. 2002 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF) vom 27. 3. 2002 - dem Angeklagten bekannt gegeben am 3. 4. 2002 - wurde das Asylverfahren eingestellt, nachdem der Angeklagte am 22. 3. 2002 seinen Asylantrag zurückgenommen hatte. Es wurde außerdem festgestellt, dass Abschiebungshindernisse nicht vorliegen.

Unter Androhung der Abschiebung in die Türkei wurde der Angeklagte sodann zur Ausreise binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung aufgefordert. Der Bescheid ist seit dem 11. 4. 2002 rechtskräftig. Die Abschiebungsandrohung ist seit diesem Zeitpunkt vollziehbar. Am 28. 11. 2010 um 15.10 Uhr wurde der Angeklagte von der Polizei am Flughafen Langenhagen überprüft und festgenommen. Der Angeklagte war nicht im Besitz von gültigen Ausweisdokumenten. In der Hauptverhandlung hat sich dieser Vorwurf nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Gewissheit bestätigt. Denn zum einen ist es schon sehr zweifelhaft, ob das oben beschriebene Verhalten des Angeklagten überhaupt den objektiven Tatbestand des unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet im Sinne der in der Anklage genannten Vorschriften erfüllt. Der Angeklagte hat über seinen Verteidiger eingewendet, dass türkische Staatsangehörige bis zur Dauer von drei Monaten visumfrei in die EU-Staaten unter anderem auch zu touristischen Zwecken einreisen dürfen. Dies ergebe sich aus der sogenannten "Soysal-Entscheidung" des EuGH vom 19. 2. 2009 (Rs. C-228/06). Diese Entscheidung sei zwar formal nur zur Frage der sogenannten aktiven Dienstleistungsfreiheit von türkischen Staatsangehörigen (die in einem EU-Staat Dienstleistungen erbringen wollen) ergangen, gelte aber auch für die passive Dienstleistungsfreiheit, also für die Fälle, in denen z. B. Touristen Dienstleistungen in einem EU-Land in Anspruch nehmen: Eine Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Dienstleistungsfreiheit sei willkürlich und in der Praxis kaum möglich, da die eine nicht ohne die andere denkbar sei. Dies sei auch in mehreren Fällen von der Rechtsprechung so entschieden worden und in der Literatur so anerkannt.

Das Gericht tritt dieser Auffassung des Verteidigers aus den oben genannten Gründen grundsätzlich bei. Da der Angeklagte sich unwiderlegbar dahin gehend eingelassen hat, erst wenige Tage vor seiner Festnahme am Flughafen Hannover am 28. 11. 2010 nach Deutschland unter anderem zu touristischen Zwecken eingereist zu sein (etwas anderes wird ihm auch in der Anklage nicht zur Last gelegt), läge dann bereits der objektive Tatbestand des unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet nicht vor, weshalb der Angeklagte aus rechtlichen Gründen freizusprechen wäre. Letztlich kommt es aber hierauf zur Überzeugung des Gerichts nicht an, da der Angeklagte bei seiner Einreise jedenfalls irrtumsbedingt nicht erkennen konnte und musste, dass sein Verhalten möglicherweise strafbar sein könnte. Da diese Frage schon von deutschen Juristen nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantwortet werden kann (siehe oben), kann von einem rechts- und sprachunkundigen türkischen Staatsangehörigen erst recht nicht verlangt werden, dass er die mögliche Strafbarkeit seines Tuns erkennt bzw. erkennen müsste. Es kann daher auch dahinstehen, ob diese Unkenntnis als Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB oder als Verbotsirrtum nach § 17 StGB einzustufen ist. Bei einem Tatbestandsirrtum entfiele der Tatvorsatz und eine fahrlässige Begehensweise ist vorliegend nicht strafbar; bei einem Verbotsirrtum entfiele die Schuld, wenn dieser unvermeidbar war, wovon das Gericht bei diesem Angeklagten aus den oben genannten Gründen überzeugt ist. Der Angeklagte ist daher auch aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.