Der Europäischer Gerichtshof hat am 20. September 2007 In der Rechtssache C-16/05 (Tum und Dari) eine weitere wichtige Grundsatzentscheidung zum Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger getroffen.
Das Vorabentscheidungsersuchen betraf die Auslegung von Art. 41 Abs. 1 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und mit der Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls (ABl. L 293, S. 1, im Folgenden: Zusatzprotokoll). Das Zusatzprotokoll, das nach seinem Art. 62 Bestandteil des Assoziierungsabkommens zwischen der EWG und der Türkei ist, enthält einen Titel II („Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“), dessen Kapitel I „Arbeitskräfte“ und dessen Kapitel II „Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr“ betrifft. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls lautet: „Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“
Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Herr Tum im November 2001 von Deutschland aus und Herr Dari im Oktober 1998 von Frankreich aus auf dem Seeweg im Vereinigten Königreich angekommen sind. Nachdem ihre Asylanträge abgelehnt worden waren, wurde gemäß dem am 15. Juni 1990 in Dublin unterzeichneten Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (ABl. 1997, C 254, S. 1) die Ausweisung von Herrn Tum und Herrn Dari angeordnet, die jedoch von den zuständigen nationalen Behörden nicht vollzogen wurde, so dass sie sich immer noch im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs aufhalten. Da Beiden nur eine vorübergehende Aufnahme im Vereinigten Königreich gewährt wurde, die nach dem Recht des Vereinigten Königreichs einer formellen Einreiseerlaubnis für diesen Mitgliedstaat nicht gleichgestellt und zudem mit einem Beschäftigungsverbot verbunden war, beantragten die Herren Tum und Dari ein Einreisevisum für das Vereinigte Königreich, um sich dort zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederzulassen. Dazu beriefen sie sich auf das Assoziierungsabkommen, wobei sie insbesondere geltend machten, dass nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ihre Einreiseanträge für den Aufnahmemitgliedstaat nach der nationalen Einwanderungsregelung zu prüfen seien, die am Tag des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls im Vereinigten Königreich, d. h. am 1. Januar 1973, anwendbar gewesen sei.
Der Secretary of State lehnte die Anträge von Herrn Tum und Herrn Dari jedoch aufgrund der am Tag der Antragstellung geltenden nationalen Einwanderungsregelung ab. Da die Parteien der Ausgangsverfahren darüber streiten, ob die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 auf die Regelung des Vereinigten Königreichs über die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger, die von der Niederlassungsfreiheit in diesem Mitgliedstaat Gebrauch machen wollen, anwendbar ist, hat das House of Lords das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: „Ist Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat untersagt, von dem Tag an, an dem das Protokoll in diesem Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, für einen türkischen Staatsangehörigen, der sich in diesem Mitgliedstaat zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederlassen will, neue Beschränkungen in Bezug auf die Bedingungen und das Verfahren für die Einreise in sein Hoheitsgebiet einzuführen?“
Maßgeblichen Entscheidungsgründe:
"52 Hinsichtlich der Bedeutung der Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls folgt außerdem aus der Rechtsprechung, dass weder diese Klausel noch die sie enthaltende Bestimmung aus sich heraus einem türkischen Staatsangehörigen ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht verleihen kann, das sich unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht ergäbe (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 64 und 61 dritter Gedankenstrich, sowie Abatay u. a., Randnr. 62). Das gilt auch für die erstmalige Einreise eines türkischen Staatsangehörigen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats.
53 Nach dieser Rechtsprechung ist eine solche Stillhalteklausel aber dahin zu verstehen, dass sie die Einführung neuer Maßnahmen verbietet, die zum Zweck oder zur Folge haben, dass die Niederlassung türkischer Staatsangehöriger in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die sich aus Vorschriften ergeben, die für diese Personen zu dem Zeitpunkt galten, als dort das Zusatzprotokoll in Kraft trat (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 69, 70 und 71 vierter Gedankenstrich, sowie Abatay u. a., Randnrn. 66 und 117 zweiter Gedankenstrich).
54 Aus Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls folgt somit nicht, dass türkischen Staatsangehörigen ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gewährt werden muss, da ein solches positives Recht aus dem gegenwärtig geltenden Gemeinschaftsrecht nicht hergeleitet werden kann, vielmehr weiterhin dem nationalen Recht unterliegt.
55 Somit hat eine Stillhalteklausel, wie sie in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthalten ist, nicht die Wirkung einer materiellrechtlichen Vorschrift, die das maßgebliche materielle Recht, an dessen Stelle sie tritt, unanwendbar macht, sondern stellt praktisch eine verfahrensrechtliche Vorschrift dar, die in zeitlicher Hinsicht festlegt, nach welchen Bestimmungen der Regelung eines Mitgliedstaats die Situation eines türkischen Staatsangehörigen zu beurteilen ist, der in diesem Mitgliedstaat von der Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen will.
(…)
63 Es ist somit davon auszugehen, dass die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls auch auf die Regelung über die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger in einem Mitgliedstaat anwendbar ist, in dessen Hoheitsgebiet diese von der Niederlassungsfreiheit nach Maßgabe des Assoziierungsabkommens Gebrauch machen wollen.
64 Zum Hilfsvorbringen des Vereinigten Königreichs, dass abgewiesene Asylsuchenden wie den Klägern der Ausgangsverfahren eine Berufung auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zu verwehren sei, da jede andere Auslegung letztlich zu einer Unterstützung betrügerischer oder missbräuchlicher Verhaltensweisen führe, ist schließlich zu sagen, dass die Rechtsbürger nach ständiger Rechtsprechung sich nicht auf das Gemeinschaftsrecht berufen können, wenn sie dies in betrügerischer oder missbräuchlicher Absicht tun (Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C255/02, Slg. 2006, I1609, Randnr. 68), und dass die nationalen Gerichte im Einzelfall das missbräuchliche oder betrügerische Verhalten der Betroffenen auf der Grundlage objektiver Umstände berücksichtigen können, um ihnen gegebenenfalls den Vorteil aus den geltend gemachten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zu versagen (vgl. u. a. Urteil vom 9. März 1999, Centros, C212/97, Slg. 1999, I1459, Randnr. 25).
(…)
69 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass er es verbietet, von dem Zeitpunkt an, zu dem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, neue Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit einschließlich solcher einzuführen, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet dieses Staates betreffen, die sich dort zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederlassen wollen.
(…)
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 41 Abs. 1 des am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichneten und mit der Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossenen, gebilligten und bestätigten Zusatzprotokolls ist dahin auszulegen, dass er es verbietet, von dem Zeitpunkt an, zu dem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist, neue Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit einschließlich solcher einzuführen, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet dieses Staates betreffen, die sich dort zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederlassen wollen."
Anmerkung:
Seit dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls wurde der Zugang türkischer Staatsangehöriger zur selbständigen Erwerbstätigkeit im Inland insbesondere durch § 21 AufenthG erschwert. Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 konnte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit nach Ermessen erteilt werden, ohne an die weitgehenden Voraussetzungen des § 21 AufenthG gebunden zu sein. Die Ausländerbehörden durften sich bei der Entscheidung über die Gestattung selbständiger Erwerbstätigkeit nach § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 davon leiten lassen, ob von dem Ausländer nach seinem bisherigen Aufenthalt zu erwarten war, dass er sich als Selbständiger in das Wirtschaftsleiben einfügen konnte und die Aufnahme der selbständigen Tätigkeit nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war (BVerwG, U. v. 27.09.1978 – I C 28.77 -, Buchholz 402.24 Nr. 13a zu § 2 AuslG1965). Daher war zu prüfen, ob der Ausländer inzwischen mit den deutschen Lebensverhältnissen und der deutschen Sprache ausreichend vertraut geworden ist. Dabei durfte allerdings kein zu scharfer Maßstab angelegt werden (BVerwG, U. v. 09.05.1986 – 1 C 39/83 –, BVerwGE 74, 165 ff. = NVwZ 1986, 1026 ff. = NJW 1986, 3037 ff. = InfAuslR 1986, 237 ff.). Art und Umfang der beabsichtigten Erwerbstätigkeit mussten berücksichtigt werden. Entscheidend war, ob die vom Ausländer bisher gesammelten Erfahrungen im Umgang mit Behörden und Geschäftsleuten und seine Sprachkenntnisse für die geplante selbständige Tätigkeit eine ausreichende Grundlage bildeten. Der festgestellte Sachverhalt musste den Schluss rechtfertigen, der Ausländer werde sich tatsächlich in das Wirtschaftsleben einfügen.
Nach der Entscheidung des EuGH steht nunmehr fest, dass die Zulassung Selbständiger nach den alten Regelungen des AuslG 1965 erfolgen muss. Auswirkungen auf die Einreisvorschriften ergeben sich für Selbständige indes nicht.
Die Vorschrift des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls führt dazu, dass für die Beurteilung der Einhaltung der Einreisebestimmungen durch türkische Staatsangehörige die Rechtslage des Ausländergesetzes im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls, d.h. am 01.01.1973, zugrunde zu legen ist, sofern diese günstiger ist. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG vom 10.09.1965 (BGBl. I S. 1341) in der Fassung vom 13.09.1972 (BGBl. I S. 1743 – im Folgenden: DVAuslG 1965) benötigten türkische Staatsangehörige, die entsprechend der Positivliste von der Sichtvermerkspflicht grundsätzlich freigestellt waren, nur dann vor der Einreise einen Sichtvermerk, wenn sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Für sonstige Aufenthalte bestand ohne zeitliche Begrenzung grundsätzlich keine Visumspflicht, da diese erst durch die 11. Änderungsverordnung zur DVAuslG vom 01.07.1980 (BGBl. I S. 782) auch für türkische Staatsangehörige eingeführt wurde. Dabei konnte die Sichtvermerkspflicht im Hinblick auf die noch erforderliche Kündigung der deutsch-türkischen Sichtvermerksvereinbarung von 1953 erst am 5.10.1980 in Kraft treten.
Kommt der Standstill-Klausel des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für den Bereich der Dienstleistungsfreiheit erhebliche Bedeutung zu, weil insbesondere Dienstleistungsempfänger (Touristen) visumsfrei einreisen können, so gilt Gleiches nicht für die Einreise zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit. Denn einem türkischen Staatsangehörigen, der sich selbständig erwerbstätig im Bundesgebiet niederlassen will, konnte bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls entgegengehalten werden, dass seine Einreise nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 DVAuslG 1965 visumspflichtig ist. Etwas anderes folgte auch nicht aus dem Niederlassungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und der Türkei vom 12.01.1927 (RGBl. S. 76 – Wiederanwendung seit dem 01.03.1952 BGBl. II S. 608 – im folgenden: NAK). Soweit Art. 4 NAK bestimmt, dass die Staatsangehörigen jedes vertragschließenden Teils berechtigt sind, im Gebiet des jeweils andern Vertragstaates jede Art von Industrie und Handel zu betreiben sowie jede Erwerbstätigkeit und jeden Beruf auszuüben, soweit diese nicht den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten sind, ist diese Regelung berufsrechtlicher Art und hat zur Voraussetzung, dass sich der Ausländer zu der von ihm beabsichtigten Tätigkeit im Bundesgebiet aufhalten darf. Sie schränkt demnach das nach nationalem Recht für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis bestehende Ermessen der Ausländerbehörde nicht ein. Vorbehaltlich des Gegenseitigkeitsprinzips (Art. 1 NAK) folgt aus Art. 4 NAK für das Aufenthaltserlaubnisverfahren lediglich, dass türkische Staatsangehörige von selbständigen Erwerbstätigkeiten nicht generell ausgeschlossen werden durften. Dagegen lässt sich aus Art. 4 NAK nicht herleiten, dass türkischen Staatsangehörigen visumsfrei in das Bundesgebiet einreisen durften (so bereits BVerwG, U. v. 09.05.1986 – 1 C 39.83 -, InfAuslR 1986, 237 [238]). Gleiches gilt für Art. 12 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13.12.1955 (BGBl. 1959 II S. 998), das für die Türkei ohnehin erst am 20.03.1990 in Kraft getreten ist (BGBl. 1991 II S. 397).
Dr. Dienelt
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