Der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in der Rechtssache Keles mit Urteil vom 27.10.2005 ? 3223 1/02 ? eine Ausweisung, die unbefristet verfügt worden war, für unvereinbar mit Art. 8 Abs. 2 EMRK erklärt.
Der EGMR vertrat die Auffassung, dass bei einer Entscheidung über eine Ausweisung gemäß Art. 8 EMRK zu prüfen sei, ob sie unbefristet zulässig ist. Bei dieser Prüfung seien Umstände zu würdigen wie die Art der begangenen Straftaten, die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die Frage, ob der Ausländer über eine Niederlassungserlaubnis verfügt, und die Schwierigkeiten, mit denen seine Kinder in der Türkei konfrontiert wären.
Die Entscheidung wird im InfAuslR mit der nachfolgenden Anmerkung von RA Dr. Gutmann veröffentlicht:
?Schon im Urteil Radovanovic, InfAuslR 2004, 374 verdeutlichte der Menschen¬rechtsgerichtshof die Notwendigkeit, bei Angehörigen der zweiten Ausländergen¬eration bei Ausweisungen zu prüfen, ob sie nur befristet auszusprechen sind. Das Urteil Keles verdeutlicht damit eine Schwachstelle schon von § 8 Abs. 2 Satz 3 AuslG 1990 und nunmehr von § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Wenn die Ausweisung zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 8 EMRK schon bei ihrer Vollziehung befristet sein muss, darf sie in diesen Fällen von vornherein nur be¬fristet ausgesprochen werden. Die behördliche Praxis und sie billigende Gericht¬sentscheidungen haben aus der Regelung, dass die Befristung erst ab Ausreise zu laufen beginnt (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG), die entgegengesetzte Schlussfol¬gerung gezogen. Sie hält den Anforderungen des EGMR nicht Stand. Zugleich wirft die Entscheidung die Frage nach der menschenrechtlichen Zulässigkeit der unbefristeten Sperrwirkung der Abschiebung auf. Sie trat auch in dem vom EGMR entschiedenen Fall automatisch ein. Der EGMR geht ersichtlich von einer realen Rückkehrmöglichkeit ins Bundesgebiet aus. Dem entspricht die bisherige Praxis mit der engen Auslegung der Rückkehroption nicht (vgl. OVG Berlin, AuAS 2003, 16). ? Bemerkenswert ist auch die Klarheit, mit der der Gerichtshof die Schwierigkeiten herausarbeitet, die sich für türkische Kinder bei einem Wech¬sel vom deutschen in das türkische Schulsystem ergeben würden. In den Entschei¬dungen deutscher Gerichte wurden solche Schwierigkeiten bislang nicht gesehen. Sie sind jedoch wiederum beim Ausweisungsschutz nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu berücksichtigen. Nach dem Maßstab des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 hätte deshalb die Ausweisung auch nicht befristet erlassen werden dürfen.?
Dr. Klaus Dienelt