Ein Ausländer ist als Flüchtling anzuerkennen, wenn seine Furcht begründet ist, dass er in seinem Herkunftsland wegen der öffentlichen oder privaten Ausübung seiner Religion verfolgt wird.
Auch ein durch strafrechtliche Sanktionen erzwungener Verzicht auf die Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit kann zur Flüchtlingsanerkennung führen.
Dann aber muss die Ausübung gerade dieser religiösen Praxis für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig sein. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in vier Verfahren über die Flüchtlingsanerkennung von pakistanischen Staatsangehörigen zu entscheiden, die der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft angehören. Diese Religionsgemeinschaft versteht sich als islamische Erneuerungsbewegung, ihre Mitglieder werden in Pakistan aber nicht als Muslime anerkannt. Eine öffentliche Ausübung ihres Glaubens ist dort mit hohen Strafen bis hin zur Todesstrafe bedroht. In zwei der vier Verfahren hatte das Bundesverwaltungsgericht eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zu den unionsrechtlichen Anforderungen an eine Flüchtlingsanerkennung bei religiöser Verfolgung eingeholt (EuGH, Urteil vom 5. September 2012, C-71/11 und C-99/11).
Der 10. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat aus dieser Entscheidung des EuGH nun die Konsequenzen für die anhängigen Revisionsverfahren gezogen und die Berufungsurteile aufgehoben. Zwar ist nicht jeder Eingriff in die Religionsfreiheit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung, doch können schwere Eingriffe auch in die öffentliche Religionsausübung (forum externum) zur Flüchtlingsanerkennung führen.
Die öffentliche Glaubensbetätigung muss dann aber für den Einzelnen ein zentrales
Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Dann kann auch der erzwungene Verzicht auf diese Glaubensbetätigung zur Flüchtlingsanerkennung führen; andernfalls blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten. Die Verfahren wurden an die Berufungsgerichte zurückverwiesen, weil die Berufungsurteile bisher keine hinreichenden tatsächlichen Feststellungen zur Verfolgungswahrscheinlichkeit und - in drei Verfahren - auch nicht zur Bedeutung einer öffentlich bemerkbaren Religionsausübung für die religiöse Identität der Betroffenen enthalten. Hierzu werden die Berufungsgerichte nun die erforderlichen Tatsachen aufzuklären
haben.
Pressemitteilung des BVerwG Nr. 10/2013 vom 20. Februar 2013
BVerwG 10 C 20.12 - Urteil vom 20. Februar 2013
Kommentar von Heiko Habbe*:
In Anlehnung an die Vorlageentscheidung des EuGH vom 5.9.2012, Rs. C-71/11 u. C-99/11, Y u. Z. gg. BRD, erkennt das BVerwG nunmehr an, dass auch ein Eingriff in die Freiheit zur öffentlichen Religionsausübung ein Grund für die Flüchtlingsanerkennung sein kann. Mehrere Revisionsverfahren wurden deswegen an die Vorinstanzen zurückverwiesen.
Damit dürfte die Rechtsauffassung des BVerwG, nach der allein die Verletzung eines Kernbereichs der Religionsfreiheit (sog. "forum internum") zur Flüchtlingsanerkennung führen könne, der Geschichte angehören. Der EuGH hatte diese Unterscheidung ausdrücklich als unangebracht zurückgewiesen und auf den weiten Religionsbegriff des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Qualifikationsrichtlinie hingewiesen, der auch die öffentliche Glaubensfreiheit schütze. Abzustellen sei nicht darauf, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen werde, sondern auf die Art und die Folgen der Repressionen, denen der Betroffene ausgesetzt sei. Auch die Vorlagefrage, ob Verfolgung zu verneinen sei, wenn der Betroffene auf die fragliche Betätigung freiwillig verzichten könne, wurde deutlich zurückgewiesen; die Möglichkeit des Verzichts sei für die Frage der Verfolgung irrelevant.
Das BVerwG übernimmt nun weitgehend die Terminologie des EuGH. Ein Fragezeichen bleibt: Nach der Pressemitteilung soll relevante Verfolgung dann vorliegen, wenn der Verzicht auf Formen der öffentlichen Religionsausübung erzwungen wird, die der Gläubige als für sich unverzichtbar erachtet. Der EuGH hatte zusätzlich zu dieser subjektiven Komponente auch den erzwungenen Verzicht auf Verhaltensweisen, die von der jeweiligen Glaubenslehre angeordnet werden, d. h. eine kollektive Komponente aufweisen, als schutzwürdig eingestuft. Ob das BVerwG hier erneut eine Beschränkung des Schutzbereichs der religiösen Verfolgung versucht, wird anhand der Urteilsbegründung zu beurteilen sein.
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