Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat am 22. März 2012 (1 C 3.11) entschieden, dass jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die von der Bundesrepublik Deutschland seit 1991 aufgenommen worden sind, jedenfalls seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 nicht die Rechtsstellung eines Kontingentflüchtlings genießen und das Abschiebungsverbot des Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bzw. dessen Umsetzung in § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht automatisch zu ihren Gunsten eingreift.
Der Entscheidung liegt der Fall eines 46 jährigen russischen Staatsangehörigen zugrunde, der 1997 als jüdischer Emigrant aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland aufgenommen worden war. Im Dezember 2003 wurde er wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Die Strafkammer ging von einer erheblichen Verminderung seiner Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer psychischen Erkrankung aus.
Die beklagte Ausländerbehörde wies den Kläger im Februar 2006 aus und drohte ihm die Abschiebung in die Russische Föderation an. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die gegen die Ausweisung gerichtete Klage abgewiesen; insoweit ist seine Entscheidung rechtskräftig. Die Abschiebungsandrohung hat er aufgehoben, da jüdische Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion aufgrund eines Beschlusses der Regierungschefs des Bundes und der Länder vom 9. Januar 1991 die Rechtsstellung von Kontingentflüchtlingen entsprechend § 1 des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge - Kontingentflüchtlingsgesetz - genießen würden. Sie könnten sich auch ohne Vorliegen eines Verfolgungsschicksals auf das flüchtlingsrechtliche Abschiebungsverbot (Art. 33 GFK bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG) berufen. Denn die Aufnahme dieses Personenkreises sei vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Verbrechen des Nationalsozialismus erfolgt. Zudem dürfe der Kläger auch deshalb nicht abgeschoben werden, weil er herzkrank sei und die notwendige medizinische Behandlung in der Russischen Föderation nicht finanzieren könne (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
Der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts hat die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aufgehoben. Der Senat hat offen gelassen, ob die dem Kläger durch die Aufnahme im Jahr 1997 vermittelte Rechtsstellung in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes das Abschiebungsverbot des Art. 33 GFK bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG umfasst hat. Denn jedenfalls mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 hat der Gesetzgeber die Rechte dieser Personengruppe neu geregelt. Nach dem nunmehr geltenden § 23 Abs. 2 AufenthG kann das Bundesministerium des Inneren zur Wahrung besonders gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anordnen, Ausländern aus bestimmten Staaten oder bestimmten Ausländergruppen eine Aufnahmezusage zu erteilen. Diesen wird nach der Einreise ein humanitärer Aufenthaltstitel erteilt; Abschiebungsschutz nach Art. 33 GFK bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG genießen sie nicht. Aus den Übergangsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes ergibt sich, dass die Neuregelung auch die zukünftige Rechtsstellung der vor dem 1. Januar 2005 aufgenommenen jüdischen Emigranten abschließend ausformen soll. Dagegen bestehen auch aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes keine Bedenken, da die Betroffenen ein Daueraufenthaltsrecht besitzen und ihnen die Möglichkeit verbleibt, bei Furcht vor Verfolgung einen Asylantrag zu stellen.
Die Annahme des Berufungsgerichts, wegen der Herzerkrankung greife das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugunsten des Klägers ein, verstößt ebenfalls gegen Bundesrecht. Sie verfehlt die Maßstäbe, die bei der Prognose des künftigen Krankheitsverlaufs und der Erreichbarkeit der notwendigen medizinischen Behandlung anzulegen sind. Zur Nachholung der dafür notwendigen tatsächlichen Feststellungen hat der Senat die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Quelle: Pressemitteilung BVerwG