Mangels Umsetzung von Art. 35 RL 2004/38/EG keine Verweigerung der Visumerteilung bei Scheineheverdacht

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 13.04.2011 (Az.: OVG 12 B 37.09) zur Visumerteilung zum Ehegattennachzug eines Drittstaatsangehörigen zu einer Unionsbürgerin wegen des Verdachts von Scheinehe.

  1. Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Erteilung des Visums ist § 3 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU.
  2. Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Nachzugs ergeben sich allein nach Unionsrecht bzw. nach dessen Umsetzung im Freizügigkeitsgesetz richten, soweit nicht das Aufenthaltsgesetz ausnahmsweise in § 11 FreizügG/EU für anwendbar erklärt wird.
  3. Die Ausländerbehörde durfte nicht mittels einer Befragung beider Eheleute in einem aufwändigen Verfahren überprüfen, ob die geschlossene Ehe schutzwürdig im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG ist, da ein Zustimmungsverfahren nach § 31 AufenthV nicht stattfindet.
  4. Zwar können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 35 Satz 1 der Unionsbürgerrichtlinie die Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen – zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Derartige Maßnahmen hat der deutsche Gesetzgeber jedoch nicht ergriffen.
  5. Art. 35 Unionsbürgerrichtlinie nicht wirksam durch Verwaltungsvorschrift im Sinne von Art. 40 der Richtlinie umgesetzt worden.

Mit dem Urteil ist Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen worden.

Die Entscheidung beleuchtet die Erteilungsvoraussetzungen und Anspruchsnormen nach dem Europarecht und zeigt die Grenzen der Verweigerung eines Einreisevisums nach dem Unionsbürgerrecht für drittstaatsangehörige Ehegatten von Freizügigkeitsberechtigten auf.

So dürfen nicht die gleichen Erteilungsvoraussetzungen im Visumverfahren geprüft werden, wie bei Drittstaatsangehörigen (also nicht die Vorgaben eines konstitutiv wirkenden Visums und auch keine Spracherfordernisse). Vielmehr soll bereits vor der Einreise - bei einer Auslandsvertretung - festgestellt werden, ob sie den Status von freizügigkeitsberechtigten Drittstaatern nach vollzogener Einreise besitzen werden. Und das erschöpft sich in der Frage der Familieneigenschaft i.S.d. Freizügigkeitsrechts, also in der Frage nach dem Status. Lediglich die Prüfung der Beschränkung des Freizügigkeitsrechts in Bezug auf persönliche Gefahren, die eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren, wäre zulässig. Der Visakodex (s. Nr. 3.3) lässt daher das Freizügigkeitsrecht unberührt (Artikel 1 Abs. 2 Buchst. a, b Visakodex), denn er enthält selbst keine materiellen Vorschriften über die Erteilung eines z.B. deklaratorischen Visums an freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, so der Autor bereits in InfAuslR 2009, 45, 48 (zitiert im Urteil des OVG).

Auch führt wiederholt die Regelung per AVwV nicht zur Rechtswirksamkeit, da Verwaltungsvorschriften nicht geeignet sind, fehlende gesetzliche Regelungen zu ersetzen.

Zur Entscheidung im Volltext:

icon OVG Berlin-Brandenburg - OVG 12 B 37.09 - Urteil vom 13.04.2011 (123.78 kB 2011-07-18 12:48:37)