Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass bei Ausweisungen von Ausländern Änderungen der Sach- und Rechtslage von den Tatsachengerichten zu berücksichtigen sind. Bisher hatte der für das Ausländerrecht zuständige 1. Senat aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nur bei EU-Bürgern und weiteren gemeinschaftsrechtlich privilegierten Ausländern die Berücksichtigung nachträglicher Veränderungen verlangt. Durch die heutige Entscheidung wird die bisherige Rechtsprechung, wonach bei den übrigen Ausländern (sog. Drittstaater) auf den Zeitpunkt der behördlichen Ausweisungsverfügung abzustellen ist, aufgegeben und der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung nunmehr auch für diese Ausländer ins gerichtliche Verfahren verlagert.
In dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ging es um die Ausweisung eines 32-jährigen jugoslawischen Staatsangehörigen, der im Alter von 18 Jahren nach Deutschland gekommen war und 1999 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte. Im November 2002 wurde er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, nachdem er wegen Geldwäsche zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt worden war. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hob die Ausweisung hingegen auf. Er stellte bei seiner Entscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides ab und hielt die Ausweisung angesichts der besonderen Umstände der Tat sowie der Integration des seit 1993 erwerbstätigen Klägers für unverhältnismäßig.
Auf die Revision des beklagten Landes hat der 1. Senat entschieden, dass nunmehr in allen Ausweisungsverfahren auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung der Tatsachengerichte abzustellen ist. Das gilt ab Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes im August 2007. Der Senat hat dies im Wege einer Gesamtschau insbesondere auf zwei Gründe gestützt. Zum einen ist nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen im Hinblick auf einen möglichen Eingriff in das Privat- und Familienleben (Art. 8 EMRK) und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) eine Prüfung nach den aktuellen Verhältnissen erforderlich. Zum anderen verlangen inzwischen auch einige der dem Richtlinienumsetzungsgesetz zugrundeliegenden EU-Richtlinien von den Gerichten hinsichtlich der Ausweisung bestimmter Drittstaater eine zeitnahe Beurteilung der Gefahr, die von dem Ausländer für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.
Im Fall des Klägers führt die Verlagerung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Ausweisung zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an den Verwaltungsgerichtshof. Denn dieser hat – nach damaliger Rechtslage konsequent – nur Feststellungen für die Sachlage zum Zeitpunkt des Abschlusses des behördlichen Ausweisungsverfahrens im Jahr 2002 getroffen. Der Verwaltungsgerichtshof wird nunmehr auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner Entscheidung abzustellen haben. Dabei wird er auch zu berücksichtigen haben, dass der Kläger sich aufgrund der durch das Zuwanderungsgesetz zum 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage und der damit verbundenen gesetzgeberischen Aufwertung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis auf besonderen Ausweisungsschutz berufen kann.
Die Entscheidung wird Mitgliedern zum download im Bereich Rechtsprechung zur Verfügung gestellt werden.
BVerwG 1 C 45.06 – Urteil vom 15. November 2007