§ 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist mit Blick auf die Richtlinie 2008/115/EG europarechtskonform dahin auszulegen, dass eine Bestrafung nach dieser Norm ausgeschlossen ist, wenn und soweit einem Ausländer, dessen Aufenthalt den Ausländerbehörden bekannt ist, illegaler Aufenthalt nur während des laufenden Rückführungsverfahrens zur Last gelegt wird.
Dass ein Ausländer, dessen Aufenthalt den Ausländerbehörden bekannt ist, nicht wegen illegalen Aufenthalts bestraft wird, entspricht nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 2003 (NStZ 2003, 488f) der ständigen Rechtsprechung der deutschen Gerichte (vgl. BGH, Urt. v. 6. Oktober 2004, 1 StR 76/04, Rn. 11 und 12 - juris; zuletzt OLG Frankfurt, NStZ-RR 2009, 257).
Die Richtlinie 2008/115/EG verbietet es nicht, ein Verhalten unter Strafe zu stellen und mit Freiheitsstrafe zu ahnden, mit dem sich der Betroffene selbst - wie hier der Angeklagte - außerhalb des Rückführungsverfahrens stellt, indem er sich der Aufsicht der Ausländerbehörde durch Untertauchen entzieht und dadurch verhihdert, dass die Zuwanderung effektiv kontrolliert und der Prozess der Veränderung der Bevölkerungsstruktur und der Integration der ausländischen Bevölkerung in geordnete Bahnen gelenkt werden kann.
Diese Auslegung steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Auslegung der Richtlinie. Ein-schlägig ist insoweit der 2. Auslegungssatz des Urteils des EuGH vom 6. Dezember 2011(C-239/11 -Achughbabian - juris), nach dem die Richtlinie 2008/115/EG einer nationalen Regelung, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, nicht entgegensteht, soweit diese die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält. Denn es steht, wenn mit Zwangsmaßnahmen nach Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie das angestrebte Ziel der Abschiebung eines Drittstaatsange-hörigen nicht erreicht werden konnte, den Mitgliedstaaten frei, Maßnahmen - auch strafrechtlicher Art - zu treffen, die es insbesondere ermöglichen, Drittstaatsangehörige vom illegalen Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet abzuhalten (EuGH, Urt. v. 28. April 2011, C-61/11 - El Dridi - juris, Rn 52; Urt. v. 6. Dezember 2011, Rn. 46 und 48).
Zur Entscheidung im Volltext:
OLG Hamburg, B. v. 25.01.2012 - 3 - 1/12 (Rev), 3 - 1/12 (Rev) - 1 Ss 196/11, 1 Ss 196/11 -
Zur Kommentierung im Beitrag zur Umsetzung der Rückführungsrichtlinie:
Im Onlinekommentar zu § 95 AufenthG: