Die Europäischen Gemeinschaften und die Türkei streben nicht erst seit kurzem einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union an. Vielmehr schlossen beide Seiten schon vor über vierzig Jahren, am 12.09.1963, ein Assoziierungsabkommen, das den Beitritt der Türkei zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorbereiten sollte.
Der auf der Grundlage dieses Abkommens eingerichtete Assoziationsrat EWG/Türkei erließ am 19.09.1980 den bis heute gültigen Beschluss Nr. 1/80 (ARB 1/80), der türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen besondere Rechte hinsichtlich Aufenthalt und Erwerbstätigkeit in den EU-Mitgliedstaaten zuspricht. Von der Freizügigkeit, die EU-Bürger im Gebiet der Europäischen Union genießen, sind diese Privilegien jedoch noch weit entfernt. Insbesondere folgt aus dem ARB 1/80 kein Recht, sich innerhalb des gesamten Gebietes der Europäischen Union frei zu bewegen. Das aus dem ARB 1/80 folgende Aufenthaltsrecht ist vielmehr auf das Gebiet des EU-Mitgliedstaates, in dem der türkische Arbeitnehmer erwerbstätig ist, beschränkt. Er braucht also ein Visum, um in einen anderen EU-Mitgliedstaat einreisen zu dürfen.
II. Die Rechte türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen nach dem ARB 1/80
Die für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen wichtigsten Regelungen des ARB 1/80, die Artikel 6 und 7 dieses Beschlusses, treffen ihrem Wortlaut nach nur Aussagen über beschäftigungsrechtliche Aspekte: Ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, hat in diesem Mitgliedstaat nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt; er hat nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben; und nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung hat er freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis (Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80). Seine zu ihm gezogenen Familienangehörigen türkischer Staatsangehörigkeit wiederum haben - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz in dem betreffenden Mitgliedsstaat haben; sie haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz in dem Mitgliedstaat haben (Art. 7 Satz 1 ARB 1/80). Kinder von türkischen Arbeitnehmern, die in dem Mitgliedstaat eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, dürfen sich sogar sofort auf jedes Stellenangebot dieses Mitgliedstaates bewerben, wenn ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war (Art. 7 Satz 2 ARB 1/80). Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs haben die Regelungen der Art. 6, 7 ARB 1/80 jedoch Konsequenzen über die rein beschäftigungsrechtlichen Aspekte hinaus. Zwar richtet sich das Aufenthaltsrecht auch von türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen grundsätzlich nach den allgemeinen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates, in Deutschland also nach dem Aufenthaltsgesetz. Insbesondere bei der Einreise nach Deutschland haben türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen daher dieselben Vorschriften zu beachten wie andere Nicht-EU-Bürger. Sobald ein türkischer Arbeitnehmer aber in Deutschland ist und hier mindestens ein Jahr auf dem regulären Arbeitsmarkt ordnungsgemäß beschäftigt war, kann er ein Aufenthaltsrecht für die Zukunft aus der Regelung des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ableiten (vgl. z.B. das Urteil des EuGH vom 05.10.1992, Rs. C-355/93 ? Eroglu). Gleiches gilt für seine Familienangehörigen: Wenn sie zu dem Arbeitnehmer nach Deutschland eingereist sind, sich hier mindestens drei Jahre aufgehalten haben und nun eine unselbstständige Erwerbstätigkeit in Deutschland aufnehmen, steht ihnen für die Zukunft ebenfalls ein Aufenthaltsrecht in Deutschland allein aufgrund der Regelung des Art. 7 ARB 1/80 zu. Für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen gelten also, sobald sie die Voraussetzungen der Art. 6, 7 ARB 1/80 erfüllen, nicht mehr die wesentlich strengeren Voraussetzungen, die das Aufenthaltsgesetz an die Erteilung von Aufenthaltstiteln, die zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit berechtigen, stellt. Der ARB 1/80 ist in dieser Auslegung unmittelbar geltendes Recht in jedem EU-Mitgliedstaat, nicht lediglich auf der europäischen Ebene. Der EuGH begründet dies damit, dass der ARB 1/80 ?integraler Bestandteil des Gemeinschaftsrechts? sei und somit den Gründungsverträgen, deren Inhalte ebenfalls unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten, gleichzustellen sei (EuGH, Urteil vom 20.09.1990, Rs. C-192/89 ? Sevince).
III. Anspruch eines türkischen Arbeitnehmers auf eine Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 ARB 1/80
Ob einem türkischen Arbeitnehmer eine Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 ARB 1/80 zusteht, lässt sich mithilfe des folgenden Schemas (angelehnt an das Schaubild in Reinhard Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Auflage 2005, Rdnr. 125) prüfen:
- Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80
- Arbeitet der Antragsteller seit mindestens einem Jahr beim selben Arbeitgeber?
- Gehört er dem regulären Arbeitsmarkt eines EU-Mitgliedstaates an?
- Handelt es sich bei seiner Erwerbstätigkeit um eine ordnungsgemäße Beschäftigung?
- Kein Einwand der Täuschung, etwa falsche Angaben gegenüber der Ausländerbehörde, durch die sich der türkische Arbeitnehmer den Aufenthaltstitel erschlichen hat
- Keine Unterbrechungen des Arbeitsverhältnisses, außer aus den Gründen in Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80
- Kein Erlöschen der einmal erworbenen Verfestigungsposition, etwa aufgrund freiwilliger Ausreise auf Dauer oder Wechsel zur selbstständigen Erwerbstätigkeit
Jana Laurentius, Rechtsanwältin