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Rechtskräftige Urteile sind bei Europarechtswidrigkeit zu beachten

Rechtskräftige Urteile sind auch bei Europarechtswidrigkeit zu beachten. Dies entschied der EuGH am 16.03.2006 in der Rs. C-234/04, Kapferer. Der sich aus Artikel 10 EG ergebende Grundsatz der Zusammenarbeit gebietet es einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften zu dem Zweck abzusehen, eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, falls sich zeigt, dass sie gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.

 

Vorlagefrage EuGH C-234/04

Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob und bejahendenfalls unter welchen Voraussetzungen ein nationales Gericht nach dem sich aus Artikel 10 EG ergebenden Grundsatz der Zusammenarbeit verpflichtet ist, eine gerichtliche Entscheidung, die Rechtskraft erlangt hat, zu überprüfen und aufzuheben, falls sich zeigt, dass sie gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.


Entscheidungsgründe des EuGH C-234/04

Hierzu führte der Europäische Gerichtshof in seiner Rechtsprechung aus: ?Hierzu ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Gemeinschaftsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen hat. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteil vom 30. September 2003 in der Rechtssache C-224/01, Köbler, Slg. 2003, I-10239, Randnr. 38).

Somit gebietet das Gemeinschaftsrecht es einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Entscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juni 1999 in der Rechtssache C-126/97, Eco Swiss, Slg. 1999, I-3055, Randnrn. 46 und 47).

Bei der Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, haben die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen, dass die betreffenden Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (Grundsatz der Gleichwertigkeit), und dass sie nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2000 in der Rechtssache C-78/98, Preston u. a., Slg. 2000, I-3201, Randnr. 31 und die angeführte Rechtsprechung). Im Ausgangsverfahren ist jedoch nicht geltend gemacht worden, dass diese Schranken der verfahrensrechtlichen Befugnisse der Mitgliedstaaten im Berufungsverfahren nicht beachtet worden sind.?


Bedeutung der Rechtssache Kühne & Heitz (EuGH C-234/04)

?Dieser Beurteilung steht auch das Urteil Kühne & Heitz nicht entgegen, auf das sich das vorlegende Gericht in seiner Frage 1a bezieht. Selbst wenn nämlich die in diesem Urteil aufgestellten Grundsätze auf einen Sachverhalt übertragbar sein sollten, der, wie der des Ausgangsverfahrens, eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung betrifft, ist doch zu beachten, dass dieses Urteil die Verpflichtung der betreffenden Behörde aus Artikel 10 EG, eine unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erlassene bestandskräftige Entscheidung zu überprüfen, u. a. von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Behörde nach nationalem Recht zur Rücknahme dieser Entscheidung befugt ist (siehe Randnrn. 26 und 28 des Urteils). Im vorliegenden Fall ist aber diese Voraussetzung, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, nicht erfüllt.

Aufgrund dessen ist auf Frage 1a zu antworten, dass der sich aus Artikel 10 EG ergebende Grundsatz der Zusammenarbeit es einem nationalen Gericht nicht gebietet, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften zu dem Zweck abzusehen, eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung zu überprüfen und aufzuheben, falls sich zeigt, dass sie gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.?


Anmerkung Dr. Klaus Dienelt

Die Entscheidung ist von großer Tragweite, da sie die Rechtskraft von Urteilen stärkt. Sie steht zudem in einem interessanten Gegensatz zu dem beim EuGH anhängigen Verfahren, das sich mit dem Anspruch auf Aufhebung bestandskräftiger Bescheide bei erkannter Europarechtswidrigkeit befasst.

In diesem Verfahren, einer Klage von Telekommunikationsunternehmen gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertritt Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer (Rs. C-392/04 u.a.) folgende Auffassung: ?Daher sind nach Artikel 11 der Richtlinie 97/13 aufgrund der in Artikel 10 EG festgelegten Loyalitätspflicht die Gebührenbescheide, die gegen diesen Artikel verstoßen, aber mangels rechtzeitiger Anfechtung bestandskräftig geworden sind, zu überprüfen, wenn ihre Aufrechterhaltung den Geist dieser Bestimmung oder die anderen der Gemeinschaftsordnung zugrunde liegenden Prinzipien verletzt. Die nationalen Gerichte müssen das nationale Recht so auslegen, dass bei Vorliegen derartiger Umstände die Überprüfung solcher Rechtsakte möglich ist, sofern nicht Rechte Dritter verletzt werden.?