Bundesverwaltungsgericht, Urteil des 1. Senats vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04, Abschaffung des Vorverfahrens in Baden-Württemberg
Die Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Auswirkungen der Abschaffung des Vorverfahrens in Baden-Württemberg liegt nunmehr vor. Das Bundesverwaltungsgericht hat folgende drei Leitsätze aufgestellt:
- Die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.
2. Findet die in der Richtlinie geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle ("Vier-Augen-Prinzip") nicht statt, ist die Ausweisung wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein "dringender Fall" vor.
3. Ein "dringender Fall" im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein besonderes öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen.
Diese Entscheidung ist über Baden-Württemberg hinaus von rechtlichem Interesse. Insbesondere klärt sie auch die Frage, welche Auswirkung die Verlagerung des Widerspruchsverfahrens auf die Ausgangsbehörde hat, wie dies im November 2005 in Hessen erfolgt ist. Denn ausdrücklich wird ein ?Vier-Augen-Prinzip? gefordert, das nicht dadurch eingerichtet werden kann, dass innerhalb der Ausgangsbehörde ein anderer Sachbearbeiter oder ein anderes Amt die Widerspruchsentscheidung trifft. Erforderlich ist vielmehr die Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde.
Die insoweit maßgebliche Passage der Entscheidung wird im Wortlaut wiedergegeben:
?In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wird - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68 VwGO). Denn das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsschutzsystem sieht lediglich eine Kontrolle der "Gesetzmäßigkeit" der Ausweisungsverfügung, nicht jedoch eine Überprüfung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vor. Nach § 114 Satz 1 VwGO ist die gerichtliche Überprüfung von behördlichen Ermessenserwägungen darauf beschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Eine Überprüfung der Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns ist den Gerichten danach nicht möglich. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften legt Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG aber dahin aus, dass das Eingreifen der in der Bestimmung genannten (zweiten) "zuständigen Stelle" - neben der "Verwaltungsbehörde" - ermöglichen soll, eine erschöpfende Prüfung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme zu bewirken, ehe die Entscheidung endgültig getroffen wird (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri - Rn. 103 ff., InfAuslR 2004, 268 <276 f.> m.w.N.; vgl. auch Urteil vom 2. Juni 2005, Rs. Dörr und Ünal, a.a.O.). Das kann nach der zitierten Rechtsprechung des Gerichtshofs auch die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren sein; das deutsche Verwaltungsgericht kann diese Funktion nicht übernehmen. Beim Gericht wäre im Sinne der Rechtsprechung des EuGH nicht gewährleistet, dass eine erschöpfende Prüfung der Zweckmäßigkeit einer nach Gemeinschaftsrecht zu beurteilenden Ausweisungsverfügung vorgenommen und damit den Erfordernissen eines hinreichend effektiven Schutzes im Sinne der Richtlinie genügt wird. Der EuGH hat dies in den genannten Entscheidungen sowohl für das deutsche als auch für das dem deutschen insoweit vergleichbare österreichische Rechtsschutzsystem ausgesprochen. Daraus folgt, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung des behördlichen Vorverfahrens bei Ausweisungen die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde ("Vier-Augen-Prinzip") entfallen ist. Die gegen begünstigte Ausländer verfügten Ausweisungen sind daher wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es hätte ein "dringender Fall" im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen.?