Rechtsprechung Ausländerrecht zu Art. 8 EMRK: HessVGH, 7 TG 1148/06, Verwurzelung, Schutz des Priva

Anzeige Werbung Kanzleien Anzeige

Anmerkung zu HessVGH, 7 TG 1148/06:  Verwurzelung, Schutz des Privatlebens und Verhältnismäßigkeit im Rahmen von Art. 8 EMRK

Der HessVGH hat mit Beschluss vom 6.6.2006 (Az.: 7 TG 1149/06) einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Darmstadt aufgehoben, mit dem die Vollziehung der Abschiebung in Hinblick auf einen möglichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK ausgesetzt worden war.

Art. 8 EMRK, Möglichkeit der Reintegration als Grenze des Schutzes des Privatlebens

Der HessVGH führt in seinem Beschluss aus, dass bei wertender Gesamtbetrachtung der langjährige Schulbesuch der Kinder, die Integration in Sportvereine und die sonstige Verwurzelung in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht zu den Schluss rechtfertigen würden, die Kinder könnten ihr Privatleben faktisch nur noch im Bundesgebiet führen. Tragend für diesen Schluss dürfte die Annahme sein, die Antragsteller hätten nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie ihrem Heimatland in einer Weise entfremdet seien mit der Folge, dass eine (Re-)Integration für sie dort nicht möglich wäre. Anschließend wird dargelegt, dass die Kinder auch die Sprache ihres Heimatlandes sprechen würden und nicht erkennbar sei, dass die Rückführung der gesamten Familien, für sie zu kaum überschreitenden Hürden bei der Führung eines Privatlebens stoßen würde.


Anmerkung zur Entscheidung des HessVGH (Az.: 7 TG 1149/06) von Dr. Klaus Dienelt

Es ist fraglich, ob die Begründung der Entscheidung den Anforderungen an Art. 8 EMRK genügt. Zum einen bleibt bereits unklar, warum der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet sein soll. Welche Abwägung bei der „wertenden Gesamtbetrachtung“ eingestellt wurden, ist nicht erkennbar. Es spricht vieles dafür, dass der Schutzbereich mit der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK vermischt wurde.

Zum anderen verkennt der HessVGH die Bedeutung der Möglichkeit der Reintegration im Rahmen der Schrankenprüfung des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Wird eine Verletzung des Schutzbereichs festgestellt, so muss aufgrund einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ermittelt werden, ob andere Belange – welche der HessVGH hier annimmt, bleibt völlig offen – dem Aufenthaltsrecht entgegengehalten werden können. Eine Schranke der „Reintegration“ kennt die EMRK nicht! Vielmehr bildet die Möglichkeit der Reintegration die Voraussetzung, um überhaupt in eine Interessenabwägung eintreten zu können. Ist nämlich eine Reintegration nicht mehr möglich, dann müssen gewichtige Gründe für die Vorenthaltung des Aufenthaltsrechts geltend gemacht werden. Die Annahme, dass die in die hiesigen Lebensverhältnisse verwurzelten Kinder in ihr Heimatland zurückkehren können, ist damit die Grundvoraussetzung einer sich anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung. Diese Prüfung fehlt in der Entscheidung des HessVGH leider völlig.