Rechtsprechung LSG Hessen, 01.03.2006, L2R 225/05: Geburtsdatum, Migranten

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Hessisches Landessozialgericht: Erste Angabe des Geburtsdatums entscheidet

Die Praxis in Behörden und Gerichten kennt das Problem: viele Migrantinnen und Migranten kennen ihr genaues Geburtsdatum nicht; vereinzelt machen sie auch absichtlich falsche Angaben. Soweit sie ihr Alter tatsächlich nicht kennen, liegt dies oftmals daran, dass ihre Personenstandsdaten beispielsweise aufgrund schlechter Behördenpraxis, fehlender Infrastruktur oder lückenhafter Rechtsvorschriften in ihrem Herkunftsland nicht vollständig belegbar sind. Medizinisch ist dem Problem nur bedingt beizukommen, da es bislang nicht möglich ist, das Alter lebender Personen eindeutig festzustellen. Ärztliche Gutachten sind daher als Erkenntisquelle nur bedingt tauglich.

Diese Umstände haben den Gesetzgeber dazu bewogen, zumindest im Sozialrecht in den Regelungen über Ansprüche gegenüber Sozialleistungsträgern 1997 eine Vorschrift zu verankern, derzufolge grundsätzlich das Geburtsdatum gilt, das sich aus der ersten Angabe des Betroffenen gegenüber seinem Sozialleistungsträger ergibt. Nachträgliche Korrekturen sind nur möglich, wenn ein Schreibfehler vorliegt oder sich aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der Erstangabe ausgestellt wurde, ein anderes Geburtsdatum ergibt.
 
Im vorliegenden Fall hatte ein türkischer Arbeitnehmer der Rentenversicherung zunächst das Geburtsdatum 1.1.1945 genannt, dieses jedoch später durch ein Urteil des Amtsgerichts an seinem Heimatort auf den 1.1.1940 korrigieren lassen. Sein Rentenversicherer stellte ihm daraufhin eine neue Versicherungsnummer aus und teilte ihm mit, dass er ab 1.2.2003 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit ohne Abschläge beantragen könne. Dies wurde auch seinem Arbeitgeber von einer Sachbearbeiterin der Rentenversicherung bestätigt.
 
Als der Betroffene dann Altersrente nach Altersteilzeit beantragte, wies die Rentenversicherung seinen Anspruch ab, weil er das 60. Lebensjahr ausweislich seiner ersten Angabe (geboren 1.1.1945) noch nicht erreicht habe. Die gegen diesen Bescheid beim Sozialgericht Frankfurt erhobene Klage hatte Erfolg: Die Beklagte, so die Frankfurter Richter, müsse den Kläger so behandeln, als sei er im Januar 1940 geboren. Dies ergebe sich aus dem vorausgegangenen Verwaltungsverfahren und dem daraus resultierenden Vertrauensschutz für den Kläger.
 
Dieses Urteil hob der 2. Senat des Hessischen Landessozialgerichts am 31. Januar 2006 auf. Die Richter der 2. Instanz verwiesen auf die engen Grenzen, die das Gesetz für die nachträgliche Korrektur von einmal angegebenen Geburtsdaten setze. Der Kläger habe gemäß seiner ersten Angabe als im Januar 1945 geboren zu gelten, selbst dann, wenn die Rentenversicherung zwischenzeitlich selbst von einem anderen, korrigierten Geburtsdatum ausgegangen sei. Vertrauensschutz könne nur innerhalb des gesetzlich festgelegten Rahmens gelten und der sei in diesem Fall sehr strikt und formalistisch. Der Senat ließ offen, ob der Betroffene Schadensersatz von der Rentenversicherung fordern kann. Die Revision wurde nicht zugelassen.
 
Eine Regelung wie diejenige im Sozialrecht fehlt beispielsweise im Asylrecht. Den zuständigen Landesbehörden obliegt es, die Handlungsfähigkeit Minderjähriger nach § 12 AsylVfG festzustellen. Die frühere Praxis, gerade bei minderjährigen Flüchtlingen das Alter im Wege der Auswertung von Röntgenaufnahmen der Handwurzelknochen festzustellen, wurde eingestellt, nachdem unter anderem die Bundesärztekammer die Teilnahme von Ärzten an solchen Untersuchungen als unethisch und daher abzulehnen bezeichnet hatte. Bis heute finden nach Informationen von Menschenrechtsverbänden allerdings Inaugenscheinnahmen statt, die ebensowenig auf eine wissenschaftliche Basis gestützt werden können. Eine den sozialrechtlichen Regelungen nachgebildete Vorschrift wäre daher auch in diesem Bereich wünschenswert.

RAin Anne Glinka