Sprache, Integration, Rechtsstaat, Gerichtsreportage, Verena Mayer

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Das Erste, was der Angeklagte macht, ist eine Verbeugung. Eine Verbeugung zur Richterbank hin, und dann noch eine ganz tiefe zu seiner Dolmetscherin. Der Angeklagte ist Chinese. Er hat einen Vornamen, den der Richter nicht aussprechen kann, und ist Student eines Faches, das der Richter nicht kennt. "Global Production Engineering", sagt der Chinese. "So etwas wie Maschinenbau, Automatisierung und Fertigung", übersetzt die Dolmetscherin. "'Student' reicht für das Protokoll", sagt der Richter unwirsch. Der Chinese deutet eine Verbeugung an und lächelt. Er ist ein höflicher Mensch. Nur einmal war er kurz wütend, und deswegen steht er jetzt vor Gericht. Er soll einer Polizistin den Mittelfinger gezeigt haben.(immer Mittwochs: Gerichtsreportagen von Verena Mayer!)

Herr Mu, 30 Jahre alt, geboren in Peking und erst seit kurzem in Deutschland, ist ein Mann mit breitem Gesicht und dicker Brille, der vor Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat strotzt. Er hat gegen den Strafbefehl über 200 Euro, den man ihm zugestellt hat, Einspruch eingelegt, weil er sich ungerecht behandelt fühlte. Ins Amtsgericht Tiergarten ist er mit einem Rucksack voller Unterlagen gekommen. Er zieht eine lange Stellungnahme hervor, die er auf dem Computer verfasst hat, und zeichnet eine Skizze des Tatorts. Als der Richter ihn nicht versteht, steht er auf und versucht, den Tathergang szenisch nachzustellen, indem er zwischen Richterbank und Zuschauerreihen hin und her tänzelt.

Es begann mit einem Job. Herr Mu musste Geld für sein Studium verdienen und ließ sich von einer studentischen Vermittlung für eine Baustelle einteilen. Eines Tages wollte er schließlich Geld für seine Arbeit sehen. Er ging ins Büro der Vermittlung und verlangte die vereinbarten 430 Euro. Er wurde auf die Fristen in seinem Vertrag verwiesen und wieder nach Hause geschickt. Sechs Mal ging das so, eines Tages verlor Herr Mu die Geduld. Am 27. November des vergangenen Jahres marschierte er abermals ins Büro und verlangte mit lauter Stimme sein Geld. Am Empfang saßen zwei Frauen, die Herrn Mu nicht verstanden und sich Herrn Mu auch nicht verständlich machen konnten. Angestellte liefen zusammen, der Chef wurde geholt und schließlich die Polizei.

Die kam zehn Minuten später mit Blaulicht angefahren, man hatte ihnen eine "randalierende Person" angekündigt. Die trafen sie nicht an, nur einen aufgeregten chinesischen Studenten. Der Polizist und die Polizistin ließen sich vom Chef erklären, was los war, der Chef zeigte ihm die Unterlagen. Der Polizist hielt Herrn Mu den Vertrag unter die Nase. Darin stand, dass eine studentische Hilfskraft das Geld erst vier Wochen nach Ende der Tätigkeit bekommt. Der Polizist sagte, dass Herr Mu das unterschrieben habe, er müsse einfach nur warten, bis er sein Geld bekomme, hier stehe es doch schwarz auf weiß. Herr Mu, der aufgrund seiner Herkunft mit weniger Vertrauen in Behördenkram und Bürokratie gesegnet ist, sah sich nun endgültig um sein Geld betrogen. "Ich dachte, der Polizist wollte mich trösten, und ich fand das gar nicht lustig." Herr Mu wurde laut, schließlich begannen die Polizisten, mit dem Chef zu verhandeln. Nach eineinhalb Stunden bekam Herr Mu sein Geld in bar und eine Quittung, die er unterschreiben sollte, Ordnung muss sein.

Doch die deutsch-chinesischen Missverständnisse waren damit noch lange nicht ausgeräumt. Der Chef der Vermittlung erteilte Herrn Mu ein Hausverbot und fand, Herr Mu solle jetzt endlich das Büro verlassen. Herr Mu fand hingegen, dass ihm noch Verzugszinsen und eine Erklärung zustünden. Er wurde von den Polizisten ins Treppenhaus geschoben und glaubte zu hören, wie die Polizistin sagte: "Chinesen wollen immer Geld kriegen." Da fing Herr Mu an, wild zu gestikulieren. Die Polizistin, eine Frau mit langem schwarzen Haar, die mit ihrem Kind auf dem Arm ins Gericht gekommen ist, will eindeutig den Mittelfinger gesehen haben. Herr Mu sagt, er habe den Zeigefinger verwendet, weil er sich verständlich machen wollte. Er habe beim Hinausgehen nur noch von den Polizisten wissen wollen, ob der ganze Ärger negativen Einfluss auf sein Studium in Deutschland haben würde. "Ich bin Student und wollte nichts falsch machen", sagt Herr Mu. Die Polizisten fühlten sich dagegen beleidigt und schrieben eine Anzeige. "Der wollte das letzte Wort haben", glaubt der Polizist, ein stämmiger junger Mann. Er sieht aus, als hätte er es nicht gern, wenn andere das letzte Wort haben. 

"Ich konnte gar nicht den Mittelfinger zeigen, ich hatte ja das Geld in der Hand", sagt Herr Mu vor Gericht. Der Richter knüllt einen Zettel zusammen, macht um das Papier eine Faust und wedelt mit dem Mittelfinger in Richtung des Chinesen. "Das geht sehr wohl", sagt der Richter. Auf die Sicht des Angeklagten gibt er wenig, er glaubt vielmehr, dem unbescholtenen und inzwischen ziemlich verschreckten Herrn Mu eine Standpauke halten zu müssen. "Für Sie spricht hier wenig", sagt der Richter und verurteilt den Chinesen wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 600 Euro, viel Geld für jemanden, der sein Studium auf der Baustelle finanzieren muss. Selbst die schlecht gelaunte Staatsanwältin hatte nur 400 Euro Strafe gefordert. Er, der Chinese, hätte wissen müssen, wie man in Deutschland Dinge regelt, sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung. In Deutschland würde man sich an die Behörden wenden oder einen Anwalt konsultieren, wenn man sein Geld nicht bekomme. "Hier herrscht keine Selbstjustiz, das ist ein Rechtsstaat", poltert der Richter. Herr Mu deutet eine Verbeugung an. Er versteht die Welt nicht mehr, den deutschen Rechtsstaat vermutlich am allerwenigsten.