Überstellungshaft im Dublinverfahren in Deutschland weitgehend rechtswidrig

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Fehlen gesetzlicher Grundlagen zur Inhaftnahme von Asylbewerbern
zur Überstellung in anderen EU-Mitgliedstaat (BGH, B. v. 26.06.2014 - V ZB 31/14 -). Mit Berichtigungsanmerkungen aufgrund BGH, B. v. 23.07.2014 zu - V ZB 31/14 -.

Der BGH hat entschieden, dass momentan Haftanordnungen zum Zweck der Überstellung von Ausländern in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, die auf Fluchtgefahr gestützt werden, nicht ergehen dürfen.

Der Rechtsbeschwerdeführer, ein pakistanischer Staatsangehöriger, war illegal nach Deutschland eingereist, nachdem er zuvor in Ungarn einen Asylantrag gestellt hatte. Das Amtsgericht hat gegen ihn Haft angeordnet, um seine Überstellung nach Ungarn zu sichern. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Der BGH hat die Entscheidung des Landgerichts aufgehoben und entschieden, dass nach der derzeitigen Rechtslage gegen einen Ausländer in der Regel nicht die Haft angeordnet werden darf, um seine Überstellung in den für die Entscheidung über den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaat zu sichern. Die Haftanordnung habe den Betroffenen daher in seinem Freiheitsrecht verletzt.

Hintergrund des Verfahrens ist die Novellierung der unionsrechtlichen Regelungen über die Festlegung der Kriterien und das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, so genannte Dublin-III-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 v. 26.06.2013, ABL. Nr. L 180, 31). In dieser Verordnung, die auf alle seit dem 01.01.2014 an andere Mitgliedstaaten gerichteten Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme anzuwenden ist, sind erstmals durch das Gemeinschaftsrecht (besser: Unionsrecht) auch die Voraussetzungen für eine Inhaftnahme geregelt. Danach darf eine Person zur Sicherstellung ihrer Überstellung nur dann in Haft genommen werden, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, die Haft verhältnismäßig ist und wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen (Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung). Die Verordnung bestimmt zudem den Begriff der "Fluchtgefahr" als das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, dem gegen ihn laufenden Überstellungsverfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte (Art. 2n Dublin-III-Verordnung). Der Bundesgesetzgeber hat bisher keine gesetzlichen Bestimmungen zur Ausfüllung des Art. 2n Dublin- III-Verordnung geschaffen. Nach der zuvor geltenden Dublin-II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 343/2003 v. 18.02.2003, ABl. Nr. L 50, 1), erfolgte die Inhaftierung zur Sicherung der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Deutschland nach der Vorschrift des § 62 AufenthG. In den meisten Fällen wurde die Haft auf der Grundlage von § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG angeordnet, wonach ein Ausländer in Haft zu nehmen ist, wenn der begründete Verdacht besteht, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Unter Geltung der Dublin-III-Verordnung sind auf § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG gestützte Inhaftnahmen von Ausländern zum Zwecke der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nun aber rechtswidrig. Denn diese Norm legt (anders als § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG - Änderung durch Beschluss vom 23.07.2014) keine objektiven Kriterien für die Annahme von Fluchtgefahr fest und genügt daher nicht den durch Art. 2n Dublin III-Verordnung gestellten Anforderungen. Das hat zur Folge, dass zurzeit Haftanordnungen zum Zweck der Überstellung von Ausländern nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung nicht ergehen dürfen.

Hinweis auf RdNr 31 der Entscheidung:

Überstellungshaft nach Art. 28 Dublin-III-Verordnung kann allerdings angeordnet werden, wenn die Haftgründe im nationalen Recht so ausgestaltet sind, dass sie nur bei Vorliegen von objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien verwirklicht werden, welche die Annahme einer Fluchtgefahr begründen. Das ist in Deutschland derzeit allein bei den in § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG (Änderung durch Beschluss vom 23.07.2014) genannten Haftgründen (Wechsel des Aufenthaltsorts ohne Angabe einer Anschrift unter der der Ausländer erreichbar ist; vom Ausländer zu vertretendes Nichtantreffen an dem von der Behörde angegebenen Ort an dem für die Überstellung angekündigten Termin) der Fall.

Zur Entscheidung des BGH:
BGH, B. v. 26.06.2014 - V ZB 31/14 -

Vorinstanzen AG Saarbrücken, Beschl. v. 06.01.2014 - 7 XIV 2/14
LG Saarbrücken, Beschl. v. 04.02.2014 - 5 T 19/14

Quelle:
Nach der Mitteilung der Pressestelle des BGH, Nr. 117/2014


Dazu einzelne Stimmen aus der Politik:

Nachdem der EuGH in der letzten Woche die Abschiebungshaft in gewöhnlichen Haftanstalten als EU-rechtswidrig verboten hat, ist nun auch eine Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshof vom 26. Juni 2014 ergangen, nach der nahezu alle Abschiebungsinhaftierungen im Rahmen des Dublinverfahrens – und somit vermutlich ca. 80 Prozent aller Abschiebehaftfälle – EU-rechtswidrig sind.

Ulla Jelpke (DIE LINKE) fordert deshalb heute erneut einen generellen Verzicht auf die Abschiebungshaft sowie eine sofortige Entlassung und Entschädigung der Betroffenen – hier ist die Pressemitteilung auch das Urteil verlinkt und abrufbar:

Homepage Ulla Jelpke

Bereits im März hatte Ulla Jelpke die Bundesregierung mit einer schriftlichen Frage auf die Rechtswidrigkeit der Dublin-Haft in Deutschland seit Inkrafttreten der Dublin III-Verordnung hingewiesen, weil es an gesetzlich definierten, objektiven Kriterien für die Annahme einer erheblichen Fluchtgefahr fehlt (im Anhang). Die Antwort der Bundesregierung war damals schon idiotisch (siehe meine Rundmail vom 25.3.2014), angeblich würden „nationale Regelungen … von einer EU-Verordnung ausnahmsweise nicht verdrängt, wenn diese notwendig sind, um der Verordnung zu ihrer Wirksamkeit zu verhelfen“.

Nun hat es die Bundesregierung schwarz auf weiß vom BGH, dass Schutzsuchende in Deutschland leichtfertig und ohne gesetzliche Grundlage ihrer Freiheit beraubt wurden, nur weil sie hier um Schutz nachgesucht haben.

Genaue Zahlen zu Dublin-Inhaftierungen gibt es nicht, weil die Bundesregierung hierzu auch auf mehrfache Anfrage Angaben verweigert.

Zuletzt hatte die Fraktion DIE LINKE Ende 2013 nach entsprechenden Zahlen gefragt – die Bundesregierung hat in verfassungswidriger Weise Auskünfte und Abfragen bei den Bundesländern hierzu verweigert (siehe nachfolgend aus BT-Drs. 18/249).

Quelle:
Nach einer Zusendung von Dr. Thomas Hohlfeld

Referent für Migration und Integration
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Telefon +4930/227-51122
Telefax +4930/227-56293
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www.linksfraktion.de

Deutscher Bundestag
18. Wahlperiode, Drucksache 18/886 vom 21.03.2014

Schriftliche Fragen mit den in der Woche vom 17. März 2014 eingegangenen Antworten der Bundesregierung

Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern
5. Abgeordnete Ulla Jelpke (DIE LINKE.)

Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass eine Überstellungshaft im Rahmen des Dublin-Überstellungsverfahrens derzeit grundsätzlich unzulässig ist, weil diese nach Artikel 28 Absatz 2 der Dublin-III-Verordnung nur bei erheblicher Fluchtgefahr verhängt werden darf (weitere Bedingungen kommen hinzu), deren Prüfung laut Artikel 2 Buchstabe n der Verordnung aber auf „objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen“ muss, die es jedoch (noch) nicht gibt, zumal wegen des haftrechtlichen Analogieverbots (vgl. Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes und Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 2007, 2 BvR 2106/05) eine Übertragung der diesbezüglichen Regelungen zur Abschiebungs- oder Zurückweisungshaft auf die Überstellungshaft nicht zulässig ist, und was folgt hieraus (bitte ausführlich begründen)?

Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder vom 17. März 2014

Die Bundesregierung prüft derzeit den Umsetzungs- bzw. Anpassungsbedarf der neu geschaffenen Regelungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem in bzw. an das nationale Recht. Teil dieses Asylsystems ist auch die seit 1. Januar 2014 anwendbare Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (sog. Dublin-III-Verordnung). Die darin enthaltenen Regelungen zum Dublin-Verfahren, auch die neu eingefügten Regelungen zur Haft in Artikel 28, gelten grundsätzlich unmittelbar. Bestehende nationale Regelungen werden von einer EU-Verordnung (EU – Europäische Union) ausnahmsweise nicht verdrängt, wenn diese notwendig sind, um der Verordnung zu ihrer Wirksamkeit zu verhelfen. Bislang wurden Inhaftnahmen zu Dublin- Überstellungen auf § 57 Absatz 2, 3 und § 62 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes gestützt. Eine bundeseinheitliche Rechtsprechung zur Anwendung der Dublin-Haftregelungen liegt noch nicht vor.