Urteil VG Berlin vom 14.06.2012 (Az.: 20 K 121.11 V).
Leitsatz:
Die Frage, ob sich ein Unionsbürger, der in einem anderen Mitgliedstaat nachhaltig von seinem Recht auf Freizügigkeit (Art. 20 AEUV) Gebrauch gemacht hat, auch nach Rückkehr in sein Heimatland zugunsten von Familienangehörigen, denen er Unterhalt gewährt, auf dieses Recht berufen kann, beurteilt sich nach Maßgabe der konkreten Umstände des Einzelfalls. Sofern dem Familienangehörigen während des Aufenthalts des Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat noch kein von diesem abgeleitetes Freizügigkeitsrecht zustand, gebietet die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Freizügigkeit nach Rückkehr des Unionsbürgers in sein Heimatland nicht die Ermöglichung des Familiennachzugs zu diesem.
Im Kern stand die Frage, ob sich Unionsbürger auf den erworbenen Status als Freizügigkeitsberechtigte ein lebenslang berufen können.
Zum Sachverhalt:
Die chinesische Staatsangehörige begehrte im Wesentlichen die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrer chinesischen Tochter und deren deutschen Ehemann. Das Paar hatte 2005 in München geheiratet. Der Ehemann hielt sich in den Jahren 2003 und 2004 sowie – nach zweijähriger Erwerbstätigkeit in Norwegen – von Februar 2006 bis Juli 2008 in Großbritannien auf, wo er promovierte. Seit August 2008 wohnten die Eheleute, die die eheliche Lebensgemeinschaft bereits zuvor in Großbritannien aufgenommen hatten, in der Bundesrepublik Deutschland. Anfang 2011 beantragte die Klägerin bei der deutschen Botschaft in Peking die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn, von denen sie seit Oktober 2010 eine monatliche finanzielle Unterstützung erhielt.
Bewertung:
Ausgehend von der Rechtsprechung des EuGH weist der vorliegend zu beurteilende Lebenssachverhalt nach Auffassung des VG keine relevanten Berührungspunkte mit unionsrechtlich bedeutsamen Sachverhalten auf, sondern stellt sich als rein inländischer Sachverhalt dar.
Unstreitig war, dass der Schwiegersohn der Klägerin von dem ihm als Unionsbürger zustehenden Recht auf Freizügigkeit während seines mehrjährigen Aufenthalts in Großbritannien, wo er promovierte, nachhaltig Gebrauch gemacht hatte.
Die Klägerin kann sich allerdings auf den Fortbestand des von ihrem Schwiegersohn abgeleiteten Nachzugsrechts nur dann berufen, wenn die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Freizügigkeit dies gebietet.
Eine untergeordnete Rolle spielte hier die Frage, inwieweit erworbene Rechte zeitlich unbegrenzt gewährt bleiben. Nach Auffassung des VG sei die Annahme, die bei der Rückkehr in das Heimatland „mitgenommene“ Freizügigkeitsstellung „erlösche“ generell nach Ablauf von zwei Jahren (so Dienelt, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, FreizügG/EU, § 1 Rn. 31, der die Erlöschenstatbestände des § 4 a Abs. 6 und 7 FreizügG/EU für entsprechend anwendbar hält) wegen der Einzelfallbezogeneheit nicht anwendbar.
Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich von denjenigen Sachverhalten, die den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof (Fälle Singh und Eind) zugrundelagen, maßgeblich dadurch, dass die Klägerin die familiäre Lebensgemeinschaft mit ihrem Schwiegersohn noch nicht während dessen Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich hergestellt hatte.
Die Klägerin erhielt nach ihrem eigenen Vorbringen vor Oktober 2010 noch keine finanzielle Unterstützung von ihrem Schwiegersohn und ihrer Tochter. Da ihr von diesen mithin kein „Unterhalt“ im Sinne dieser Richtlinie „gewährt“ wurde, handelte es sich bei der Klägerin nicht um die Familienangehörige eines Unionsbürgers im Sinne der Richtlinie 2004/38/EG, als ihr deutscher Schwiegersohn sich in Großbritannien aufhielt.
Ein zugleich begehrtes Schengen-Visum wurde resultierend aus den vorgenannten Gründen wegen begründeter Zweifel an der von der Klägerin bekundeten Rückkehrbereitschaft abgelehnt.
Zum Volltext:
VG Berlin - 20 K 121.11 V - Urteil vom 14.6.2012 (113.53 kB 2012-07-21 15:25:31)