Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat mit Beschlüssen vom 19.08.2014 in drei Verfahren, in denen es um die Rechtmäßigkeit von Wohnsitzauflagen gegenüber Ausländern mit subsidiärem Schutzstatus geht, den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg angerufen.
Die dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2011/95/EU der Europäischen Union vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie). Diese dient u.a. dazu, einheitliche Regelungen über den Schutz zu treffen, den anerkannte Flüchtlinge und Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz innerhalb der Europäischen Union genießen. Der deutsche Gesetzgeber hat die Richtlinie mit Wirkung zum 1. Dezember 2013 umgesetzt.
Die Kläger der Ausgangsverfahren stammen aus Syrien und sind in den Jahren 1998 und 2001 nach Deutschland eingereist. Ihnen wurde zwar nicht die Flüchtlingseigenschaft, wohl aber der Status von Personen mit subsidiärem Schutz zuerkannt. Wegen des Bezuges von Sozialleistungen nach dem SGB II wurde ihre Aufenthaltserlaubnis mit der Auflage verbunden, ihren Wohnsitz in einer bestimmten Stadt bzw. in einem bestimmten Landkreis zu nehmen. Die Beklagten haben die verfügten Wohnsitzauflagen auf die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften des Bundesministeriums des Innern gestützt, wonach mit Hilfe einer regionalen Bindung u.a. eine übermäßige finanzielle Belastung einzelner Länder und Kommunen verhindert werden soll.
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hält derartige Wohnsitzauflagen für unvereinbar mit Unionsrecht. Ihnen stünden die Regelungen der Qualifikationsrichtlinie entgegen, die sich auf die Bewegungsfreiheit im Staatsgebiet (Art. 33) und auf die Gewährung von Sozialhilfe beziehen (Art. 29). Für Personen mit subsidiärem Schutzstatus gelte insoweit nichts anderes als für anerkannte Flüchtlinge, bei denen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Genfer Flüchtlingskonvention derartige Auflagen verbiete. Demgegenüber hält das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Wohnsitzauflagen für vereinbar mit Unionsrecht. Die maßgeblichen Regelungen in der Qualifikationsrichtlinie wichen inhaltlich von der Genfer Flüchtlingskonvention ab und blieben im Schutzniveau dahinter zurück. Daher dürften Wohnsitzauflagen gegenüber subsidiär Schutzberechtigten verfügt werden.
Die Vereinbarkeit von Wohnsitzauflagen für subsidiär Schutzberechtigte mit der Richtlinie 2011/95/EU wirft europarechtliche Zweifelsfragen auf. Der 1. Revisionssenat hat daher eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union beschlossen. Die Vorlagefragen sind als Anlage beigefügt. Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs hat das Bundesverwaltungsgericht die Revisionsverfahren ausgesetzt.
BVerwG 1 C 1.14 - Beschluss vom 19. August 2014
Vorinstanzen:
OVG Münster 18 A 1291/13 - Urteil vom 21. November 2013
VG Münster 8 K 295/13 - Urteil vom 18. April 2013
BVerwG 1 C 3.14 - Beschluss vom 19. August 2014
Vorinstanzen:
OVG Lüneburg 2 LC 222/13 - Urteil vom 11. Dezember 2013
VG Hannover 2 A 4072/12 - Urteil vom 09. April 2013
BVerwG 1 C 7.14 - Beschluss vom 19. August 2014
Vorinstanzen:
OVG Lüneburg 2 LC 14/14 - Beschluss vom 28. März 2014
VG Stade 6 A 970/13 - Beschluss vom 23. August 2013
Anlage zur Pressemitteilung Nr. 51/2014 vom 19. August 2014
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
1) Stellt die Auflage, den Wohnsitz in einem räumlich begrenzten Bereich (Gemeinde, Landkreis, Region) des Mitgliedstaats zu nehmen, eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne von Art. 33 der Richtlinie 2011/95/EU dar, wenn der Ausländer sich ansonsten im Staatsgebiet des Mitgliedstaats frei bewegen und aufhalten kann?
2) Ist eine Wohnsitzauflage gegenüber Personen mit subsidiärem Schutzstatus mit Art. 33 und/oder Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU vereinbar, wenn sie darauf gestützt wird, eine angemessene Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten auf deren jeweilige Träger innerhalb des Staatsgebiets zu erreichen?
3) Ist eine Wohnsitzauflage gegenüber Personen mit subsidiärem Schutzstatus mit Art. 33 und/oder Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU vereinbar, wenn sie auf migrations- oder integrationspolitische Gründe gestützt wird, etwa um soziale Brennpunkte durch die gehäufte Ansiedlung von Ausländern in bestimmten Gemeinden oder Landkreisen zu verhindern? Reichen insoweit abstrakte migrations- oder integrationspolitische Gründe aus oder müssen solche Gründe konkret festgestellt werden?