Türken über Frankreich wegen Armenier-Gesetz erbost

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Die französische Nationalversammlung stellt das Leugnen des Völkermords an den Armeniern unter Strafe. In der Türkei empört der Beschluss nicht nur Politiker - auch kritische Intellektuelle halten ihn für falsch. Türkische Verbraucher wollen als Reaktion auf den Beschluss der Nationalversammlung französische Produkte boykottieren.

 

Gesetzliche Regelung und Boykottdrohung der türkischen Politik

Die französische Abgeordnetenkammer hatte die Gesetzesvorlage angenommen, mit der die Leugnung eines Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich unter Strafe gestellt werden soll. Bereits 2001 hatte Frankreich per Gesetz die Armenier-Verfolgung als "Völkermord" eingestuft. Nun soll jeder, der abstreitet, dass es sich um Völkermord gehandelt hat, mit einem Jahr Gefängnis und 45.000 Euro Bußgeld bestraft werden.
Nicht nur die Türkei, sondern auch viele europäische Politiker haben kritisch auf den Beschluss des französischen Parlaments reagiert, das "Leugnen" des armenischen "Genozids" unter Strafe zu stellen. Von türkischer Seite wurde eine Lawine wirtschaftlicher Konsequenzen in Aussicht gestellt: Boykott französischer Produkte, Ausschluss Frankreichs bei internationalen Ausschreibungen staatlicher Großaufträge, Abbruch wirtschaftlicher Partnerschaften auf Unternehmensebene - wenn all das wahr wird, dann muss Frankreichs Wirtschaft einen empfindlichen Schlag verkraften. Das Parlament soll am Dienstag zu einer außergewöhnlichen Sitzung zusammentreten, um über konkrete Maßnahmen zu beraten. Als sicher gilt der Ausschluss französischer Firmen von staatlichen Ausschreibungen, etwa beim geplanten Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks.

Bis zuletzt hatte man in der Türkei gehofft, dass die französische Nationalversammlung auf den Beschluss verzichten würde, die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich unter Strafe zu stellen. Doch obwohl auch die französische Regierung vor der Annahme des Gesetzes warnte, stimmten 106 Abgeordnete bei 19 Gegenstimmen der Vorlage zu. Das reichte, da viele Abgeordnete die Abstimmung einfach schwänzten

Besonders erzürnt ist man, weil das französische Gesetz formal einen Vergleich mit dem Holocaust der Nazis im Zweiten Weltkrieg herstellt. Das Abstreiten beider Völkermorde wird mit denselben Strafen belegt, und es sind die beiden einzigen Völkermorde, deren Abstreiten bestraft wird. Der Holocaust richtete sich aus rassistischen Gründen gegen eine Bevölkerung, die friedlich und "unschuldig" war.

Nun wird sich in der Türkei helle Empörung auf den Straßen entladen. Bereits in den letzten Tagen hatten Anhänger der ultrarechten MHP demonstriert, in den kommenden Tagen wird wohl der Volkszorn gegen Frankreich einen Höhepunkt erleben. Die meisten Türken begreifen das Gesetz als neuerliche Demütigung und Absage an eine zukünftige türkische EU-Mitgliedschaft.
Als Ministerpräsident Erdogan im Vorfeld der Entscheidung sagte, "eine Lüge bleibe eine Lüge, auch wenn ein anderes Parlament etwas anderes beschließe", konnte er sicher sein, die breite Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben. Gleichzeitig versuchte er aber noch, die höchsten Wellen der Empörung wieder zu dämpfen. Einen Vorschlag aus seiner Fraktion, quasi im Gegenzug die französischen Verbrechen in Algerien zum Völkermord zu erklären, erteilte er eine klare Absage. Die offizielle Türkei wird zunächst einmal ökonomisch reagieren.

Auch türkische Intellektuelle lehnen das Gesetz ab

Am stärksten betroffen aber sind gerade diejenigen demokratischen Kräfte in der Türkei, die seit Jahren für mehr Meinungsfreiheit kämpfen und schon lange versuchen, die Debatte um die Armenienfrage in die türkische Öffentlichkeit zu tragen. "Wie sollen wir zukünftig gegen Gesetze argumentieren, die uns verbieten über einen Genozid zu reden, wenn Frankreich nun umgekehrt dasselbe tut", sagte Hrant Dink, einer der prominentesten armenischen Intellektuellen in Istanbul. "Das ist völlig irrational".
Sowohl die armenische Kirche als auch das letzte Armenierdorf in der Türkei (Vakifli) haben Frankreich vorgeworfen, mit dem Gesetz ihren Interessen geschadet zu haben, und auch aus Armenien selbst ist Unverständnis zu vernehmen. Denn die seit Längerem laufende Politik Ankaras, hinter den Kulissen still nach Möglichkeiten einer Annäherung an Armenien zu tasten, dürfte jetzt ein Ende finden. Der armenische Patriarch in Istanbul, Mesrop Mutafyan, hat das Gesetze als schädlich für jeden Dialog und den Versuch, wechselseitiges Verständnis zu etablieren, bezeichnet. Nachdem in den letzten Jahren vor allem in Istanbul Armenier, aber auch Griechen als christliche Minderheiten wieder positiv wahrgenommen worden waren, droht nun ein völliger Rückschlag.
Das gilt auch für die Beziehungen zu dem Nachbarstaat Armenien. Die im letzten Jahr begonnenen informellen Gespräche zwischen der Türkei und Armenien, in denen auf Bürokratenebene Möglichkeiten zur Normalisierung der Beziehungen ausgelotet werden sollen, werden wohl abgebrochen werden. Türkische Nationalisten fordern schon jetzt, rund 70.000 Armenier, die in der Türkei illegal arbeiten und die von der türkischen Regierung bislang stillschweigend geduldet werden, nun umgehend auszuweisen.

Historischer Hintergrund des Streits

Die Armenier wurden im Osmanischen Reich (heute Türkei) schon 1894-1895 und 1909, besonders aber ab 1915 bis 1918 verfolgt; etwa 1,5 Millionen fielen dem Völkermord zum Opfer. Außerhalb der armenischen Gemeinde von Istanbul mit aktuell ca. 46.000 Mitgliedern gibt es heute in der Türkei fast keine Armenier mehr. Eine unbekannte Anzahl von Armeniern entging der Deportation und Ermordung durch Kindesraub und Zwangsislamisierung (vor allem junge Frauen), sowie Flucht nach Ostarmenien, später Aussiedelung in die UdSSR (Kaukasus-Armenien). Einige wurden auch von den Kurden aufgenommen und versteckt (sogenannte Dönme Kurden). Sie werden bis heute von nationalistischen Türken als Anhänger der separatistischen PKK oder eines Großarmenien verdächtigt und dadurch bedroht. Die Türkei leugnet den Völkermord bis heute.
Während der landesweiten staatlich inszenierten Pogrome gegen nichtmuslimische Minderheiten in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 durch die korrupte Regierung des Ministerpräsidenten Adnan Menderes wurden neben Griechen, Juden und Aramäern auch wieder Armenier Opfer. Bis heute hat sich noch keine türkische Regierung zu diesen Ausschreitungen bekannt und sie in des öffentliche Bewußtsein gerückt.
Entsetzt vom blutigen Treiben der Jungtürken hat Franz Werfel, der später durch die Nationalsozialisten verfolgt wurde, im November 1933 seinen berühmten Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh" der Weltöffentlichkeit vorgestellt und damit sehr früh für das geistige Überleben der Armenier gesorgt.

Weiterführende Links

http://de.wikipedia.org/wiki/Armenier
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,442264,00.html
http://www.welt.de/data/2006/10/14/1070393.html
http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=3857&Alias=wzo&cob=252746
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,442264,00.html
http://www.n24.de/politik/article.php?articleId=75211
http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,,OID5997760,00.html