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Auswirkungen der Familienzusammenführungsrichtlinie auf die Lebensunterhaltsdeckung

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In Nachzugsfällen stellt sich häufig die Frage, welche Anforderungen an die Bestimmung der Lebensunterhaltsdeckung beim Familiennachzug zu stellen sind: Führt ein geringfügiges Unterschreiten der erforderlichen Beträge zur Lebensunterhaltsdeckung – außer in atypischen Fällen – zur Ablehnung des Nachzugsantrags? Muss eine Familie mit vielen Kindern, die alle einen Aufenthaltstitel haben, hinnehmen, dass ein Elternteil dauerhaft von der Familie getrennt lebt, weil ergänzende Sozialleistungen bezogen werden? Die Untersuchung wird zeigen, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie  eine umfassende Einzelfallwürdigung verlangt, bei der der Nachzug aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auch zu gestatten ist, wenn noch keine Verletzung des Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegt. Damit sind Zweifel erlaubt, ob die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. August 2008  den Anforderungen der Richtlinie im Hinblick auf ein Absehen der Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genügt. 
Maßgeblich für die Lebensunterhaltsdeckung beim Familiennachzug ist nach der Familienzusammenführungsrichtlinie die Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 Buchstabe c RL 2003/86/EG. Die im Kapitel IV enthaltene Regelung über die Deckung des Lebensunterhalts von Familienangehörigen gehört über die Formulierung des Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG, "Vorbehaltlich der in Kapitel IV … genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt", zu den Nachzugsvoraussetzungen eines Rechtsanspruchs auf Familienzusammenführung. Art. 7 Abs. 1 RL 2003/86/EG bestimmt:"
Artikel 7
(1) Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt:
a) Wohnraum, der für eine vergleichbar große Familie in derselben Region als üblich angesehen wird und der die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden allgemeinen Sicherheits- und Gesundheitsnormen erfüllt;
b) eine Krankenversicherung für ihn selbst und seine Familienangehörigen, die im betref-fenden Mitgliedstaat sämtliche Risiken abdeckt, die in der Regel auch für die eigenen Staatsangehörigen abgedeckt sind;
c) feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreicht. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen." Diese Regelung sieht – anders als Art. 5 Abs. 1 RL 2003/109/EG  – keine verbindliche Beachtung der Anforderungen vor, sondern räumt dem deutschen Gesetzgeber eine Gestaltungsoption („kann“) ein. Art. 7 Abs. 1 Buchstabe c RL 2003/86/EG ist im Rahmen von Familiennachzugsfällen nicht unmittelbar anwendbar, da die Richtlinie bereits mit dem zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Aufenthaltsgesetz insoweit in nationales Recht umgesetzt wurde, als die bisherigen Regelungen zur Lebensunterhaltssicherung auch auf Fälle anwendbar sein sollten, die unter die Familienzusammenführungsrichtlinie fielen. Die Annahme, dass nicht erst das Richtlinienumsetzungsgesetz, sondern bereits das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Aufenthaltsgesetz als Umsetzungsakt anzusehen ist, wird durch die die formale Schranke des Art. 20 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 RL 2003/86/EG gestützt. Nach Art. 20 Abs. 1 Satz 2 RL 2003/86/EG setzen die Mitgliedstaaten die Kommission unverzüglich von einer Umsetzung (oder einer Teilum-setzung) in Kenntnis. Außerdem nehmen die Mitgliedstaaten, wenn sie gesetzliche Bestimmungen zur Transformation der Richtlinie erlassen, in diesen Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf die Richtlinie zur Familienzusammenführung Bezug. Gilt das Zitiergebot des Art. 20 Abs. 2 RL 2003/86/EG nur für den Fall, dass neue gesetzliche Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie erlassen werden (wie das Richtlinienumsetzungsgesetz), so ist die Mitteilungspflicht auch dann einschlägig, wenn der Mitgliedstaat die Auffassung vertritt, zur Umsetzung von einschränkenden Vorbehalten sei eine neue gesetzliche Regelung nicht erforderlich, da die bestehenden gesetzlichen Vorgaben den Vorbehalt ausreichend und richtlinienkonform ausfüllen würden. Die erfolgte Mitteilung an die Kommission führt als Umsetzungsakt für die Familien-zusammenführungsrichtlinie aber ausdrücklich auch schon das zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Aufenthaltsgesetz an, sodass auf die dort enthaltenen Regelungen über die Lebensunterhaltsdeckung zurückgegriffen werden muss.
 
Für die Annahme, dass es sich bei dem zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetz um ein Transformationsgesetz handelt, spricht außerdem der Umstand, dass der Gesetzgeber unmittelbar an dem Gestaltungsprozess, der zur Richtlinie in der verabschiedeten Fassung geführt hat, beteiligt war und vielfach Beschränkungen durchgesetzt hat, um einen Konflikt mit dem bestehenden nationalen Ausländerrecht zu vermeiden.
Kann die Richtlinienbestimmung über die Lebensunterhaltsdeckung nicht unmittelbar herangezogen werden, so ist aber insbesondere eine richtlinienkonforme Auslegung der Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG i. V. m. § 2 Abs. 3 AufenthG geboten, wenn den Vorgaben der Richtlinie nicht hinreichend Rechnung getragen wurde. Der Formulierung in Art. 7 Abs. 1 Buchstabe c RL 2003/86/EG, "die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaates für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreicht", lässt darauf schließen, dass eine Zuwanderung in die Sozialsysteme verhindert werden soll. Dem Zusammenspiel des Art. 7 und des Art. 16 Abs. 1 Buchstabe a RL 2003/86/EG lässt sich weiterhin entnehmen, dass Beiträge der Familienangehörigen erst im Rahmen von Verlängerungsanträgen bei der Lebensunterhaltsdeckung berücksichtigt werden können. Hiervon konnte der deutsche Gesetzgeber mit § 2 Abs. 3 S. 4 AufenthG aufgrund der Günstigkeitsklausel des Art. 3 Abs. 5 RL 2003/86/EG – "Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, günstigere Regelungen zu treffen oder beizubehalten" – abweichen. Die Systematik der Richtlinie geht nicht von einer automatischen Sperre bei einem drohenden Sozialleistungsbezug aus. Fehlen die erforderlichen Mittel des Zusammenführenden, um unabhängig von Sozialleistungen leben zu können, so führt dies nicht zu einer Regelnachzugssperre. Denn Art. 17 RL 2003/86/EG fordert in allen Fällen der Ablehnung eines Antrags auf Familiennachzug eine Einzelfallabwägung. „Artikel 17
Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“ Der Art. 17 RL 2003/86/EG gilt auch für die Visumserteilung. Denn die Regelung er-fasst nicht die Ablehnung eines Antrags auf "Erteilung des Aufenthaltstitels", sondern nur die Ablehnung eines Antrags. Diese Unterscheidung ist wichtig, da der Begriff Aufenthaltstitel in Art. 2 Buchstabe f RL 2003/86/EG durch Verweis auf Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a VO 1030/2002/EG  definiert wird. Mit dem Abstellen auf einen Aufent-haltstitel nach Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a VO 1030/2002/EG werden Visa nach Art. 1 Abs. 2 Buchstabe a i VO 1030/2002/EG ausdrücklich als Aufenthaltstitel ausgenommen. Da der Wortlaut des Art. 17 RL 2003/86/EG den Begriff Aufenthaltstitel nur an die beiden Alternativen "Entzug" und "Nichtverlängerung" knüpft, bleibt der Anwen-dungsbereich der Norm für das Visumsverfahren erhalten. Insoweit verwendet Art. 17 RL 2003/86/EG die gleiche Begrifflichkeit wie Art. 5 RL 2003/86/EG. Auch in dieser Norm wird entweder von einem Antrag "auf Einreise und Aufenthalt" (Absatz 1) oder schlicht von dem Antrag (Absätze 2 bis 5) nicht aber von einem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gesprochen. Dies ist auch terminologisch konsequent, da das Europarecht mit einem Visum nicht die Legalisierung des anschließenden Aufenthalts verbindet, sondern nur die Recht-mäßigkeit des Grenzübertritts regelt. So regelt die EU-VisumVO  nur den Grenzüber-tritt, die Frage der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts ist hingegen eine Frage des Schengener Durchführungsübereinkommens (Art. 20, 21 SDÜ) oder des nationalen Rechts (etwa § 6 AufenthG). Durch Art. 17 RL 2003/86/EG werden die Vorgaben des Art. 8 EMRK in das Gemeinschaftsrecht übernommen. Denn die Familienzusammenführungsrichtlinie ist in besonderer Weise an die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention gebunden. So bestimmt der zweite Erwägungsgrund der Präambel, dass diese Richtlinie im Einklang mit den Grundrechten stehe und die Grundsätze, die insbesondere in Art. 8 EMRK und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden, berücksichtige. Die Anlehnung an die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt sich auch aus dem Kommissionsentwurf , der hierzu auf Seite 23 zu Art. 15 ausgeführt: „Ein Eingriff in das Familienleben durch Maßnahmen, die den persönlichen Rechtsstatus der betreffenden Person in Frage stellen könnten, darf nicht unverhältnismäßig im Hinblick auf die Handlungen sein, die dieser Person angelastet werden. Dabei sollen sich die Mitgliedstaaten an der Auslegung von Artikel 8 durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte orientieren (…) und die drei folgenden Kriterien berücksichtigen: familiäre Bindungen, Aufenthaltsdauer und bestehende Bindungen an das Herkunftsland." Neben dem Art. 17 RL 2003/86/EG ist beim Kindernachzug Art. 5 Abs. 5 RL 2003/86/EG zu beachten, wonach bei der Prüfung des Antrags seitens der Mitglied-staaten dafür Sorge zu tragen ist, „dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird". Aus der Begründung des Kommissionsentwurfs  ergibt sich, dass mit der Regelung des Art. 5 Abs. 5 RL 2003/86/EG unmittelbar auf das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 Bezug genommen werden sollte. Dieser Verweis wurde zwar auf Drängen der Bundesrepublik Deutschland gestrichen, jedoch hat der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung zur Familienzusammenführungsrichtlinie die Kinderschutzrechtskonvention als Gemein-schaftsprinzip im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EUV mit der Begründung eingestuft, dass “das Übereinkommen (…) jeden der Mitgliedstaten bindet“ . Aus dieser Entscheidung folgt, dass sich das Vorrangprinzip des Gemeinschaftsrechts auch auf diese Konvention erstreckt und damit Behörden und Gerichte verpflichtet, die Konvention uneingeschränkt bei Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie zu beachten . Die fehlende Verbindlichkeit der Kinderschutzrechtskonvention im Hinblick auf den Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland wird durch die gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung, das Abkommen im Rahmen des Anwendungsbereichs der Familienzusammenführungsrichtlinie zu beachten, ersetzt. Erfüllt der Zusammenführende die vom Mitgliedstaat vorgegebenen Anforderungen an eine Unterhaltssicherung nicht, so darf dies nicht automatisch zu einer Versagung des Visums führen, sondern es ist nach Art. 17 RL 2003/86/EG und bei minderjährigen Kindern außerdem noch nach Art. 5 Abs. 5 RL 2003/86/EG eine einzelfallbezogene Abwägung nach Maßgabe insbesondere der Kriterien des Art. 8 Abs. 1 EMRK erforderlich. Eine Ausnahme von der Regelerteilung – und damit die Notwendigkeit einer behörd-lichen Ermessensentscheidung – liegt bereits dann vor, wenn durch Art. 8 EMRK o-der die Kinderschutzrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. Der Maßstab ist damit nicht ergebnisbezogen. Eine Ermessensentscheidung ist daher nicht nur erforderlich, wenn eine Unvereinbarkeit der Versagung des Familiennachzugs wegen fehlender Lebensunterhaltsdeckung vorliegt, sondern bereits in jedem Nachzugsfall, in dem die Herstellung der Familieneinheit an der fehlenden Lebensunterhaltsdeckung scheitert. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des 1. Senats des Bundesverwal-tungsgerichts 26. August 2008  kaum gerecht. Der Senat stellt zwar zutreffend fest, dass die Auslegung von § 2 Abs. 3 AufenthG mit der Richtlinie 2003/86/EG vereinbar sei, jedoch wird ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nur angenommen, „wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug geboten ist, z. B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist“. Damit wurde der Ausnahmefall auf besondere, atypische Umstände reduziert, bei denen insbesondere eine Herstellung der Familieneinheit ausschließlich im Bundesgebiet möglich ist (sog. „elsewhere approach“). Dass dieser ergebnisbezogene Ansatz nicht der Intention der Richtlinie entspricht ergibt, lässt sich auch durch eine historische Auslegung stützen. Der Entstehungsgeschichte der Regelung lässt sich entnehmen, dass die Anforderungen an die Lebensunterhaltsdeckung in Anlehnung an die Richtlinie über das Aufenthaltsrecht  formuliert wurden. Denn in dem ersten Entwurfs der Kommission  findet sich die Lebensunterhaltsdeckung in Art. 9 Abs. 1 Buchstabe c. In der Begründung zu dieser Regelung wird in dem Kommissionsentwurf  hierzu auf Seite 20 ausgeführt: " Der geforderte Mindestbetrag, der sicherstellen soll, dass der Zusammenführende für den Unterhalt seiner Familie aufkommen kann, darf nicht höher als das vom Staat garantierte Mindesteinkommen sein. (…) Diese Kriterien entsprechen jenen, die in bestimmten Fällen im Bereich des freien Personenverkehrs verlangt werden (siehe die Richtlinie über das Aufenthaltsrecht).“
 
Die Richtlinie über das Aufenthaltsrecht enthält in Art. 1 Abs. 1 RL 90/364/EG eine Regelung zum Lebensunterhalt, die von dem Unionsbürger verlangt, dass er über ausreichende Existenzmittel verfügt, durch die sichergestellt ist, dass er während seines Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen muss. Die Existenzmittel gelten als ausreichend, wenn sie den Betrag übersteigen, unterhalb dessen der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen aufgrund der persönlichen Situation des Antragstellers Sozialhilfe gewähren kann.
 
Kann der Entstehungsgeschichte entnommen werden, dass die Anforderungen an die Lebensunterhaltsdeckung aus der Richtlinie über das Aufenthaltsrecht abgeleitet wurden, so ist die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu beachten.
 
Der Europäische Gerichtshof hatte bereits mehrfach die Möglichkeit zur Lebensun-terhaltsdeckung im Hinblick über die Richtlinie über das Aufenthaltsrecht Stellung zu nehmen. So hat er in der Rechtssache Grzelczyk  darauf hingewiesen, dass der Bezug von Sozialleistungen nicht automatisch zum Verlust des Aufenthaltsrechts führen darf. Aus der 6. Begründungserwägung der Richtlinie 93/96/EG ergäbe sich, dass die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht "über Gebühr" belastet werden dürfen. Die Richtlinie 93/96 erkenne somit, „übrigens ebenso wie die Richtlinien 90/364 und 90/365, eine bestimmte finanzielle Solidarität der Angehörigen dieses Staates mit denen der anderen Mitgliedstaaten an, insbesondere wenn die Schwierigkeiten, auf die der Aufenthaltsberechtigte stößt, nur vorübergehender Natur sind." Diesen Grundsatz hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache Baumbast und R  weiter konkretisiert. Er verweist im Zusammenhang mit einer keine Notversorgung gewährleistenden Krankenversicherung auf die vierte Begründungserwägung der Richtlinie 90/364/EG, wonach die Aufenthaltsberechtigten die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats nicht „über Gebühr“ belasten dürfen. Hieran anknüpfend legt er dar, dass die Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden seien: „Allerdings sind diese Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, anzuwenden. Das bedeutet, dass unter diesem Gesichtspunkt erlassene nationale Maßnahmen zur Erreichung des angestrebten Zwecks geeignet und erforderlich sein müssen (…).“
 
Dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch bei einer fehlenden Lebensunter-haltsdeckung heranzuziehen ist, ergibt sich aus der Rechtssache Trojani, in der dieser Grundsatz in Bezug auf die Gewährleistung des Existenzminimums geprüft wurde. Es spricht viel dafür, dass der Europäische Gerichtshof diese Grundsätze – die in der Unionsbürgerrichtlinie in Art 8 Abs. 4 RL 2004/38/EG verankert wurden – auch auf die nach Art. 5 Abs 5 und Art 17 RL 2003/86/EG erforderliche Abwägung übertragen wird. Denn es ist zu beachten, dass die Familiennachzugsrichtlinie – anders als die Menschenrechtskonvention – für die Kernfamilie in Art. 4 Abs. 1 RL 2003/86/EG ei-nen Nachzugsanspruch vorsieht. Damit geht die Richtlinie über den in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Anspruch auf Achtung des Familienlebens deutlich hinaus mit der Folge, dass der durch die Menschenrechtskonvention gewährte „margin of appreciation“ in diesen anspruchsbegründenden Fällen grundsätzlich nicht mehr besteht . Hierdurch kommt den in Art. 17 RL 2003/86/EG genannten Abwägungskriterien eine veränderte Funktion zu: Es wird nicht geprüft, ob die Gesichtspunkte ausnahmsweise zu einer Beschränkung des mitgliedstaatlichen Entscheidungsspielraums im Einzellfall und damit zu einem Nachzugsanspruch führen, sondern es ist umgekehrt zu ermitteln, ob die durch die Lebensunterhaltserfordernisse erfolgte Begrenzung des gemeinschaftsrechtlichen Rechts auf Familiennachzug unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Wird damit aber der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten bei Nachzugsfällen, die die Kernfamilie betreffen, durch den grundsätzlich bestehenden Nachzugsanspruch ausgeschlossen, so ist der Verweis auf ein familiäres Zusammenleben in einem Drittstaat nur ausnahmsweise zulässig.
 
Diese Sichtweise entspricht systematisch der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs zur Aufenthaltsrichtlinie. Denn Art. 18 EG verleiht jedem Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der im Vertrag und in den Vorschriften des sekundären Rechts vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Dabei verlangt das mit der Richtlinie 90/364 eingeführte Aufenthaltsrecht in Art. 1 Abs. 1 nur, dass die Personen, die dieses Recht geltend machen, „über ausreichende Existenzmittel verfügen“. Da die Richtlinie eine Schranke des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts bildet, sind die in ihr aufgestellten Bedingungen – wie alle Ausnahmen und Beschränkungen der im Vertrag verankerten Freiheiten – unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs eng auszulegen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Erfüllt der Zusammenführende die vom Mitgliedstaat vorgegebenen Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung nicht, so darf dies nicht automatisch zu einer Versagung des Visums für die Kernfamilie führen, sondern es ist nach Art. 17 RL 2003/86/EG und bei minderjährigen Kindern außerdem noch nach Art. 5 Abs. 5 RL 2003/86/EG eine einzelfallbezogene Abwägung nach Maßgabe insbesondere der Kriterien des Art. 8 Abs. 1 EMRK im Rahmen einer Ermessensentscheidung erforderlich. Hierbei ist auch der Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit, der vom Europäischen Gerichtshof in besonderer Weise hervorgehoben wird, zu berücksichtigen. Eine Atypikprüfung bei der ergebnisbezogen auf die Unvereinbarkeit der Ablehnung des Familiennachzugs mit Art. 8 EMRK abgestellt wird, genügt nicht den gemein-schaftsrechtlichen Anforderungen, die jedenfalls in Fällen, in denen ein Nachzugsanspruch besteht, eine umfassende Einzelfallwürdigung verlangen.