Gliederung
32.0 Allgemeines
32.0.1
Der Nachzug setzt in allen Fällen des § 32 voraus, dass das Kind nicht verheiratet, geschieden oder verwitwet ist und das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (vgl. § 80 Absatz 3 Satz 1; hiervon abweichende Volljährigkeitsgrenzen nach dem Recht der Herkunftsstaaten sind unerheblich). Darüber hinaus kommt ein Kindernachzug nur nach § 36 Absatz 2 in Fällen einer außergewöhnlichen Härte im Ermessenswege in Betracht. Für die Berechnung der Altersgrenzen maßgeblich ist der Zeitpunkt der Antragstellung, nicht derjenige der Erteilung oder der Möglichkeit einer Erteilung im Falle einer Antragstellung, die tatsächlich nicht erfolgte. Es müssen die Voraussetzungen der für dieses Alter maßgeblichen Rechtsgrundlage geprüft werden. Im Anschluss kann bei mittlerweile eingetretener Volljährigkeit der Titel auch nach Maßgabe des § 34 Absatz 2 verlängert werden.
32.0.2.1
Die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis darf die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis beider Eltern oder, wenn das Kind nur zu einem Elternteil nachzieht, die Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis dieses Elternteils nicht überschreiten (siehe Nummer 27.1.3 und 27.4). Besitzt ein Elternteil eine Niederlassungserlaubnis, soll die Aufenthaltserlaubnis für das Kind bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres erteilt werden. Anschließend findet § 35 Absatz 1 Satz 1 für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis Anwendung.
32.0.2.2
In den übrigen Fällen ist die Aufenthaltserlaubnis des Kindes in der Weise zu befristen, dass sie gleichzeitig mit der Aufenthaltserlaubnis der Eltern ungültig wird und verlängert werden kann. Hiervon kann abgewichen werden, wenn das Aufenthaltsrecht des Kindes gemäß § 34 ein eigenständiges Recht wird. Diesbezüglich sind auch die Regelungen über die Geltungsdauer und Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen zu beachten (siehe Nummer 27.4).
32.0.3
Der Nachzug zu einem nicht sorgeberechtigten Elternteil, der sich allein in Deutschland aufhält, ist regelmäßig zu versagen, sofern kein Fall des § 32 Absatz 1 Nummer 1 vorliegt. Der nicht sorgeberechtigte Elternteil ist darauf zu verweisen, dass er zunächst alle geeigneten Möglichkeiten zur Herbeiführung einer alleinigen Personensorgeberechtigung auszuschöpfen hat.
32.0.4
Eine Ausnahme kann in Betracht kommen, wenn eine familiäre Situation vorliegt, in der nach deutschem Kindschaftsrecht eine Personensorgerechtsübertragung möglich wäre (insbesondere im Fall des Getrenntlebens bzw. der Scheidung der Eltern), jedoch die Herbeiführung eines alleinigen Personensorgerechts des im Bundesgebiet ansässigen Elternteils entsprechend dem nach § 1626 BGB vorgesehenen Rechteumfang nach der Rechtsordnung oder der Rechtspraxis im Heimatstaat nicht vorgesehen bzw. aussichtslos ist. In diesem Fall ist auf der Rechtsgrundlage des § 32 Absatz 4 im Ermessenswege der Kindernachzug zum nichtsorgeberechtigten Elternteil zulässig, wenn der andere Elternteil dem Kindernachzug zustimmt oder seine Zustimmung nach Nummer 32.4.4.4 entbehrlich ist und nach eingehender Prüfung der Auswirkungen eines Zuzugs das maßgebliche Kindeswohl zu bejahen ist. Die Zustimmungserklärung des anderen Elternteils soll an eine umfassende Personensorgerechtsübertragung angenähert sein, soweit die einschlägigen Rechtsvorschriften dem nicht ausdrücklich entgegenstehen; eine bloße Zustimmung zur Aufenthaltsbestimmung genügt hierfür nicht. Zur Vermeidung von Kindesentziehungen ist die Echtheit der Zustimmungserklärung besonders zu prüfen. Der Zuzug zum im Bundesgebiet ansässigen, nicht-sorgeberechtigten Elternteil und die Herauslösung des Kindes aus seinen bisher bestehenden persönlichen Bindungen müssen maßgeblich dem Wohl des Kindes dienen. Die Feststellung ist im Sinne einer offenen Abwägung bei gleichwertiger Betrachtung des Lebensumfelds beider Eltern zu treffen; nicht ausschlaggebend ist ein abstrakter Vergleich des allgemeinen Lebensstandards im Herkunftsland und in Deutschland. Maßgeblich sind die im Einzelfall festzustellenden persönlichen und sozialen Beziehungen des Kindes zu den beiden Elternteilen und deren jeweiligem sozialen Umfeld. Zur Kindeswohlprüfung sind geeignete Nachweise zur familiären Kindessituation beizubringen. Die Ausländerbehörde sollte im Zweifel eine Stellungnahme des Jugendamtes einholen.
Liegen diese Voraussetzungen vor, ist bei der Ausübung des Ermessens nach § 32 Absatz 4 auch die in den § 32 Absatz 1 und 2 enthaltene, auf das Kindesalter und die individuelle Integrationsprognose abstellende Gesetzessystematik zu berücksichtigen. Zu beachten ist weiter, dass die geltenden internationalen Kinderschutzabkommen prinzipiell dem Verbleib des Kindes im Herkunftsstaat den Vorzug geben, auch um missbräuchliche Kindesentziehungen zu vermeiden (siehe hierzu auch Nummer 32.4).
32.0.5
Zur Scheinvaterschaft siehe Nummer 27.1a.1.3 und 79.2. Zu Adoptivkindern siehe die Erläuterungen in Nummer 28.1.2.1 f.. Pflegekinder haben kein Nachzugsrecht nach § 32. Möglich ist aber die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 36 Absatz 2 (vgl. auch Nummer 27.1.5 und Nummer 36.2.1.2). Bei Stiefkindern, die mit einem leiblichen Elternteil zu dessen Ehegatten nach Deutschland ziehen, ist die Nachzugsmöglichkeit nicht daran geknüpft, dass der Stiefvater/ die Stiefmutter das Kind adoptiert. Dies gilt auch, wenn die Stiefkinder erst später nachziehen. Der Nachzug findet nicht zu dem Stiefelternteil, sondern dem leiblichen Elternteil aufgrund von dessen Aufenthaltsrecht statt. Da mit dem Stiefelternteil i. d. R. eine Bedarfsgemeinschaft gebildet werden soll, ist im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts auch nicht erforderlich, dass von dem Stiefelternteil eine Verpflichtungserklärung abgegeben wird. Eine Belastung der Sozialsysteme ist aufgrund der Regelung des § 9 Absatz 2 Satz 2 SGB II nicht zu befürchten.
32.0.6
§ 32 ist auch auf Kinder anwendbar, die im Bundesgebiet geboren sind (vgl. Nummer 27.1.1).
32.0.7
Für den Einreise- und Aufenthaltszweck der Herstellung einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen Adoptionsbewerbern und dem aufzunehmenden Kind (Adoptionspflege) enthält § 6 AdÜbAG eine besondere Rechtsgrundlage. Handelt es sich dabei um einen Fall der Adoption eines Kindes aus einem Nichtvertragsstaat des Haager Übereinkommens zum Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption, kann § 6 AdÜbAG dann analoge Anwendung finden, wenn ein Adoptionsvermittlungsvorschlag der Behörden des Herkunftsstaates vorliegt (nicht aber, wenn seitens des Herkunftsstaates lediglich ein Pflegeverhältnis oder eine Vormundschaft vermittelt werden soll (vgl. hierzu auch Nummer 36.2.1.2).
32.1 Anspruch auf Nachzug von Kindern bis zum 18. Lebensjahr
32.1.1
§ 32 Absatz 1 geht als Spezialregelung den Absätzen 2 und 3 vor.
Es ist also in diesen Fällen nicht erforderlich, dass auch die Voraussetzungen der Folgeabsätze erfüllt sind. Das Gesetz bestimmt unterschiedliche Voraussetzungen einerseits für den gemeinsamen Zuzug von Eltern und Kind nach § 32 Absatz 1 Nummer 2 und andererseits für den getrennten Nachzug des Kindes zu den bereits im Bundesgebiet lebenden Eltern nach § 32 Absatz 2 und Absatz 3. Nur im letztgenannten Fall ist die Altergrenze von 16 Jahren von Bedeutung, mit deren Erreichen an den Nachzug des Kindes die erhöhten Integrationsanforderungen nach § 32 Absatz 2 gestellt werden. Einen eigenständigen Anspruch auf Aufenthalt sieht § 32 Absatz 1 Nummer 1 für das Kind von Eltern bzw. eines Elternteils mit Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus vor; das in Absatz 1 Nummer 2 genannte Erfordernis der Personensorgeberechtigung ist nach dem Gesetzeswortlaut keine Voraussetzung für das Aufenthaltsrecht des Kindes nach Absatz 1 Nummer 1.
Die nach § 32 gewährten Ansprüche werden nicht dadurch ausgeschlossen, dass bei Ausstellung des Aufenthaltstitels das Erreichen der Altersgrenze bzw. der Volljährigkeit unmittelbar bevorstehen.
32.1.2
Nach Nummer 1 ist Voraussetzung, dass der Ausländer, zu dem der Nachzug erfolgt, entweder eine Aufenthaltserlaubnis als Asylberechtigter oder anerkannter Flüchtling oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 3 besitzt.
32.1.3.1
Eine gemeinsame Verlegung des Lebensmittelpunktes i. S. d. Absatzes 1 Nummer 2 liegt vor, wenn die Familienangehörigen innerhalb eines überschaubaren Zeitraumes, der i. d. R. drei Monate nicht übersteigen darf, jeweils ihren Lebensmittelpunkt in das Bundesgebiet verlegen.
32.1.3.2
Als Verlegung des Lebensmittelpunktes ist die Verlagerung des Schwerpunktes der Lebens- und Arbeitsbeziehungen und des damit verbundenen Aufenthaltes anzusehen. Maßgeblich sind bei Erwachsenen insbesondere die Arbeitsorte, bei Kindern, Jugendlichen und Studenten die Orte, an denen die Schul- oder Berufsausbildung stattfindet. Die Niederlassung in Deutschland auf unabsehbare Zeit muss hingegen nicht beabsichtigt werden. Aufenthalte, die ihrem Zweck nach auf einen Aufenthalt von einem Jahr oder weniger hinauslaufen, führen i. d. R. nicht zu einer Verlegung des Lebensmittelpunktes, wenn eine Verlängerung des Aufenthaltes im Bundesgebiet über diese Zeit hinaus ausgeschlossen erscheint. In diesen Fällen kommt aber die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Absatz 2 bis 4 in Betracht, wenn die dortigen Voraussetzungen erfüllt sind. Längere, ihrer Natur nach begrenzte Aufenthalte, wie etwa zur Erfüllung eines mehrjährigen befristeten Arbeitsverhältnisses oder zur Ableistung einer mehrjährigen Ausbildung, führen hingegen i. d. R. zur Verlagerung des Lebensmittelpunktes nach Deutschland. Zur Möglichkeit des Nachzugs, wenn der/die Stammberechtigte( n) erst im Besitz eines nationalen Visums ist/sind bzw. zur gleichzeitigen Titelerteilung siehe Nummer 29.1.2.2.
32.1.3.3
Im Zweifel ist von einem Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet auszugehen, wenn sich eine Person für mehr als 180 Tage im Jahr in Deutschland gewöhnlich aufhält.
32.1.3.4
Die Beibehaltung einer Wohnung oder eine nur saisonale Berufstätigkeit am bisherigen Ort sind allein genommen unerheblich.
32.1.3.5
Bereits vor der Verlegung muss ein gemeinsamer Lebensmittelpunkt außerhalb des Bundesgebietes bestanden haben.
32.1.3.6
Voraufenthalte einzelner Familienmitglieder im Bundesgebiet oder in anderen Staaten zu Zwecken, die ihrer Natur nach vorübergehend sind oder der Verlegung des Lebensmittelpunktes in das Bundesgebiet dienen, wie etwa zur Wohnungs- oder Arbeitssuche oder zur vorübergehenden Einarbeitung, sind unerheblich.
32.1.3.7
Wird bei der gemeinsamen Verlegung der Zeitraum von drei Monaten aus nachvollziehbaren Gründen durch einzelne Familienmitglieder überschritten – etwa zur Beendigung eines Schuljahres oder eines Ausbildungsabschnittes im Ausland, zur vorübergehenden Fortsetzung eines im Ausland bestehenden Arbeitsverhältnisses bei langen Kündigungsfristen oder für eine längere Urlaubsreise – ist dies ebenfalls unerheblich, sofern das Gesamtbild eines Umzuges der gesamten Familie vom Ausland in das Bundesgebiet gewahrt bleibt.
32.1.3.8
Bei Verzögerungen, die sechs Monate überschreiten, ist nicht von einer gemeinsamen Verlegung des Lebensmittelpunktes auszugehen.
32.2 Anspruch auf Nachzug von Kindern nach Vollendung des 16. Lebensjahres
32.2.1
Wann die Sprache beherrscht wird, ist entsprechend der Definition der Stufe C 1 der kompetenten Sprachanwendung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) zu bestimmen.
32.2.2
Der Nachweis, dass dieser Sprachstand erreicht ist, wird durch eine Bescheinigung einer geeigneten und zuverlässigen in- oder ausländischen Stelle erbracht, die auf Grund einer Sprachstandsprüfung ausgestellt wurde. Die Bescheinigung darf nicht älter sein als ein Jahr. Inländische Stellen, die eine derartige Bescheinigung ausstellen, sollen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für die Ausführung von Sprachkursen zertifizierte Träger sein. Im Inland sind alternativ die Vorgaben aus Nummer 104b.3.1 entsprechend anzuwenden.
32.2.3
Eine positive Integrationsprognose hängt maßgeblich – jedoch nicht allein – von den Kenntnissen der deutschen Sprache ab.
32.2.4
Voraussetzung nach § 32 Absatz 2, 2. Alternative ist, dass gewährleistet erscheint, das Kind werde sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen. Dies ist im Allgemeinen bei Kindern anzunehmen, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder in einem sonstigen in § 41 Absatz 1 Satz 1 AufenthV genannten Staat aufgewachsen sind.
32.2.5
Auch bei Kindern, die nachweislich aus einem deutschsprachigen Elternhaus stammen oder die im Ausland nicht nur kurzzeitig eine deutschsprachige Schule besucht haben, ist davon auszugehen, dass sie sich integrieren werden.
32.2.6
Es ist davon auszugehen, dass einem Kind die Integration umso leichter fallen wird, je jünger es ist.
32.2a Kinder von Ausländern mit einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG
32.2a.1
Der Kindernachzug im Fall der Weiterwanderung von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen aus einem EU-Mitgliedstaat nach Deutschland findet unter den erleichterten Voraussetzungen des § 32 Absatz 2a i.V. m. § 38a statt, sofern dadurch die bereits bestehende familiäre Lebensgemeinschaft fortgesetzt wird. Einen Nachzugsanspruch haben danach die minderjährigen ledigen Kinder von Ausländern, die im Besitz einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG nach § 38a sind, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft bereits in dem Mitgliedstaat der EU bestand, in dem der Stammberechtigte die Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter besitzt (§ 32 Absatz 2a Satz 1). Der Erteilungstatbestand dient der Umsetzung des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 2003/109/ EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. EU 2004 Nummer L 16 S. 44, so genannte Daueraufenthalt-Richtlinie).
32.2a.2
Damit eine Aufenthaltsverfestigung dem Ausländer nicht zum Nachteil gereicht wird, sieht § 32 Absatz 2a Satz 2 vor, dass die erleichterte Nachzugsmöglichkeit nach § 32 Absatz 2a Satz 1 auch gilt, wenn der Ausländer unmittelbar vor Erteilung der Niederlassungserlaubnis oder einer Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a besaß.
32.3 Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Kinder unter 16 Jahren
32.3.1
Auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis besteht unter den genannten Voraussetzungen und nach Maßgabe der allgemeinen Vorschriften, insbesondere der §§ 5 und 27, ein Anspruch.
32.3.2
Es genügt, wenn die Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis oder Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG der genannten Personen gleichzeitig mit derjenigen des Kindes erteilt wird.
32.3.3
Zur Möglichkeit des Nachzugs, wenn der/die Stammberechtigte(n) erst im Besitz eines nationalen Visums ist/sind bzw. zur gleichzeitigen Titelerteilung siehe Nummer 29.1.2.2.
32.3.4
Der Anspruch besteht selbst dann, wenn der Ausländer, zu dem der Nachzug stattfindet, sich nur für einen begrenzten Zeitraum und ggf. ohne Verlegung des Lebensmittelpunktes in Deutschland aufhält, wie dies etwa bei Gastwissenschaftlern oder Studenten der Fall sein kann.
32.3.5
Kein Anspruch besteht bei Erteilung eines Schengen-Visums für einen kurzfristigen Aufenthalt.
32.4 Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen
32.4.1
Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 4 ist nur dann zu prüfen, wenn die Erteilung gemäß § 32 Absatz 1 bis 3 oder § 33 mangels Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen nicht möglich ist. Sie kommt nur in Betracht, wenn es unter Berücksichtigung des Kindeswohls oder der familiären Situation zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist. Die Voraussetzungen des § 29 Absatz 1 müssen vorliegen.
32.4.2
Hat das Kind das 18. Lebensjahr vollendet, oder ist es verheiratet, geschieden oder verwitwet, richtet sich der Nachzug ausschließlich nach § 36.
32.4.3.1
Eine besondere Härte i. S. v. § 32 Absatz 4 ist nur anzunehmen, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis für ein minderjähriges Kind nachteilige Folgen auslöst, die sich wesentlich von den Folgen unterscheiden, die anderen minderjährigen Ausländern zugemutet werden, die keine Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Absatz 1 bis 3 erhalten.
32.4.3.2
Zur Feststellung einer besonderen Härte ist unter Abwägung aller Umstände zu prüfen, ob nach den Umständen des Einzelfalles das Interesse des minderjährigen Kindes und der im Bundesgebiet lebenden Eltern an einem Zusammenleben im Bundesgebiet vorrangig ist. Dies kann der Fall sein, wenn sich die Lebensumstände wesentlich geändert haben, die das Verbleiben des Kindes in der Heimat bisher ermöglichten, und weil den Eltern ein Zusammenleben mit dem Kind im Herkunftsstaat auf Dauer nicht zumutbar ist. Zu berücksichtigen sind hierbei neben dem Kindeswohl und dem elterlichen Erziehungs- und Aufenthaltsbestimmungsrecht, das für sich allein kein Nachzugsrecht schafft, u. a. auch die Integrationschancen des minderjährigen Kindes sowie die allgemeinen integrations- und zuwanderungspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Danach liegt z. B. keine besondere Härte im Fall vorhersehbarer Änderungen der persönlichen Verhältnisse (z. B. Beendigung der Ausbildung, notwendige Aufnahme einer Erwerbstätigkeit) oder der Änderungen der allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat vor (z. B. bessere wirtschaftliche Aussichten im Bundesgebiet).
32.4.3.3
Eine besondere Härte, die den Nachzug auch noch nach Vollendung des 16. Lebensjahres rechtfertigt, kann angenommen werden, wenn das Kind aufgrund eines unvorhersehbaren Ereignisses auf die Pflege der Eltern angewiesen ist (z. B. Betreuungsbedürftigkeit aufgrund einer plötzlich auftretenden Krankheit oder eines Unfalls). Von Bedeutung ist, ob lediglich der im Bundesgebiet lebende Elternteil zur Betreuung des Kindes in der Lage ist.
32.4.3.4
Eine besondere Härte, die den Nachzug eines Kindes aus einer gültigen Mehrehe des im Bundesgebiet lebenden Elternteils rechtfertigt, kann nur angenommen werden, wenn der im Ausland lebende Elternteil nachweislich nicht mehr zur Betreuung des Kindes in der Lage ist.
32.4.3.5
Eine besondere Härte ergibt sich nicht bereits daraus, dass dem im Bundesgebiet lebenden Elternteil das Personensorgerecht übertragen worden ist. Allein die formale Ausübung des elterlichen Aufenthaltsbestimmungsrechts löst noch nicht den besonderen aufenthaltsrechtlichen Schutz des Artikels 6 GG mit der Folge des Kindernachzugs aus Ermessensgründen gemäß § 32 Absatz 4 aus. Dem Umstand einer Sorgerechtsänderung kommt bei der aufenthaltsrechtlichen Entscheidung um so weniger Gewicht zu, je älter der minderjährige Ausländer ist und je weniger er deshalb auf die persönliche Betreuung durch den sorgeberechtigten Elternteil im Bundesgebiet angewiesen ist.
32.4.4
Bei der Ermessensentscheidung sind die familiären Belange, insbesondere das Wohl des Kindes, und die einwanderungs- und integrationspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen. Für die Frage, welches Gewicht den familiären Belangen des Kindes und den geltend gemachten Gründen für einen Kindernachzug in das Bundesgebiet zukommt, ist die Lebenssituation des Kindes im Heimatstaat von wesentlicher Bedeutung. Zur maßgeblichen Lebenssituation gehört, ob ein Elternteil im Heimatland lebt, inwieweit das Kind eine soziale Prägung im Heimatstaat erfahren hat, inwieweit es noch auf Betreuung und Erziehung angewiesen ist, wer das Kind bislang im Heimatstaat betreut hat und dort weiter betreuen kann und wer das Sorgerecht für das Kind hat. Bedeutsam ist vor allem auch das Alter des Kindes. I.d.R. wird hierbei gelten: je jünger das Kind ist, in desto höherem Maße ist es betreuungsbedürftig, desto eher wird auch seine Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse gelingen.
32.4.4.1
Im Zusammenhang mit dem Kindeswohl und der familiären Situation (§ 32 Absatz 4 Satz 2) ist der Gedanke zu berücksichtigen, dass die Entscheidung der Eltern, nach Deutschland zu ziehen, grundsätzlich eine autonome Entscheidung darstellt. Das elterliche Erziehungs- und Aufenthaltsbestimmungsrecht verschafft an sich kein Nachzugsrecht. Ziehen die Eltern nach Deutschland um und lassen sie ihr Kind im Ausland zurück, obwohl sie nach Absatz 1 Nummer 2 oder Absatz 3 die Möglichkeit gehabt hätten, mit dem Kind nach Deutschland zu ziehen, rechtfertigt allein eine Änderung der Auffassung der Eltern, welche Aufenthaltslösung für das Kind die bessere ist, nicht eine nachträgliche Nachholung eines Kindes gemäß Absatz 4.
32.4.4.2
Wenn ein Kind während eines erheblichen Zeitraums bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres seinen Wohnsitz in Deutschland hatte, dann aufgrund der Entscheidung einer die Personensorge ausübenden Person in einem anderen Land außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums seinen Wohnsitz genommen hat, dort die deutsche Sprache nicht nachweislich erlernt oder gepflegt hat und nach Vollendung des 16. Lebensjahres nach Deutschland nachziehen soll, ist ein Familiennachzug aus migrationspolitischen Gründen regelmäßig zu versagen. In diesen Fällen kann jedoch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 37 in Betracht kommen.
32.4.4.3
Berücksichtigungsfähig ist hingegen der nicht unmittelbar vorhersehbare Wegfall von zum Zeitpunkt des Umzugs oder vor Vollendung des 16. Lebensjahres vorhandenen Pflegepersonen im Ausland, insbesondere durch Tod, Krankheit oder nicht vorhersehbare Ungeeignetheit der Pflegeperson. Es ist davon auszugehen, dass Kinder bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres zumindest eine erwachsene Bezugsperson benötigen, mit der sie zusammenleben. Zu prüfen ist, ob andere, gleichwertige Pflegepersonen im Ausland vorhanden sind, die zur Aufnahme des Kindes bereit und rechtlich befugt sind.
32.4.4.4
Das Kindeswohl und die familiäre Situation können für sich ebenfalls eine Ausnahme von dem nach Absatz 1 bis 3 bestehenden Erfordernis des Aufenthaltes beider personensorgeberechtigter Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils in Deutschland rechtfertigen, wenn die Herbeiführung eines alleinigen Personensorgerechts des nichtsorgeberechtigten Elternteils insbesondere im Fall des elterlichen Getrenntlebens nach der Rechtsordnung oder Entscheidungspraxis des Herkunftsstaats nicht möglich oder aussichtslos ist (siehe hierzu Nummer 32.0.4). Gleiches gilt für Fälle, in denen eine entsprechende Klärung zum Sorgerecht nicht möglich bzw. aussichtslos ist, weil der andere, rechtlich weiterhin sorgeberechtigte Elternteil nicht auffindbar ist. Geeignete Bemühungen zur Ermittlung des anderen Elternteils sind nachzuweisen, ggf. sind geeignete Belege, etwa über Nachforschungen bei Melde- oder ähnlichen Behörden, vorzulegen.
32.4.4.5
Bei der Beurteilung des Kindeswohls ist zu berücksichtigen, dass vorhersehbare Integrationsschwierigkeiten die geistige Entwicklung des Kindes erheblich beeinträchtigen können. Je älter und damit selbständiger das Kind ist, desto gewichtiger wiegt das Bedürfnis nach einer gesellschaftlichen Integration gegenüber dem Bedürfnis nach elterlichem Schutz und Beistand.
32.4.4.6
Im Zweifel sollte eine Stellungnahme des Jugendamtes eingeholt werden.
32.4.4.7
Im Zusammenhang mit Maßnahmen deutscher oder ausländischer Gerichte oder Behörden nach § 1666 BGB oder §§ 42 oder 43 SGB VIII bzw. nach entsprechenden ausländischen Vorschriften, die zur Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl eine Unterbringung des Kindes bei einem Elternteil vorsehen, der sich in Deutschland aufhält, ist der Nachzug zum betreffenden Elternteil auch in Abweichung zu Absatz 1 bis 3 regelmäßig zu gestatten. Die Aufenthaltsdauer ist entsprechend dem Zweck der vorgesehenen Maßnahme zu befristen.
32.4.4.8
Im Übrigen kommt dem Umstand einer Sorgerechtsänderung umso weniger Gewicht zu, je älter das Kind ist und je weniger es daher auf die persönliche Betreuung durch den in Deutschland lebenden Elternteil angewiesen ist.
32.4.4.9
Der Umstand, dass die Eltern des Kindes nicht miteinander verheiratet sind oder waren, rechtfertigt es für sich allein nicht, den Kindernachzug an der Entscheidung der Eltern auszurichten, dass das Kind bei dem im Bundesgebiet lebenden Elternteil wohnen soll.
32.4.5
Für die Versagung der Aufenthaltserlaubnis gelten die §§ 5, 8 und § 27 Absatz 3. §§ 10 und 11 sind anwendbar.