Gesetz:
Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980
Paragraph:
Art. 7 ARB 1/80
Autor:
OK-MigNet
Stand:
MigNet in: OK-MNet-ARB 1/80 (22.03.2021)

C.    Rechtsposition aus Art. 7 S. 1

  I.  Begriff des Familienangehörigen
 II.  Genehmigung zum Nachzug
III.  Türkischer Arbeitnehmer
IV.  Ordnungsgemäßer Wohnsitz
 V.  Erlöschen der Rechtsposition

I. Begriff des Familienangehörigen

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Der Begriff des Familienangehörigen ist – wie der Arbeitnehmerbegriff – ein unionsrechtlicher, der unter Hinzuziehung sekundären Unionsrechts definiert werden kann.

EuGH, U. v. 30.09.2004, Ayaz, C-275/02, Rn. 39.

Insofern ist der nationale Ansatz, den die AAH-ARB 1/80 (vgl. Rn. 3.3.4) verfolgen, unrichtig. Da Art. 7 S. 1 selbst den Begriff der Familienangehörigen nicht näher bestimmt, ist für das Verständnis der Vorschrift ein Vergleich mit den Vorschriften geboten, die die Rechte der Familienangehörigen der EU-Wanderarbeitnehmer regeln. Hierbei ist bei der Bestimmung des Kreises der Begünstigten Art. 59 ZP zu beachten. Danach darf den Familienangehörigen türkischer Wanderarbeitnehmer in den Mitgliedstaaten keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.

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Der Begriff „Familienangehöriger“ ist auf Unionsebene einheitlich auszulegen, um seine homogene Anwendung in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Der EuGH hat in der Rechtssache Ayaz

EuGH, U. v. 30.09.2004, Ayaz, C-275/02, Rn. 37 ff.

den Umfang der vom Begriff „Familienangehöriger“ erfassten Personengruppe dahin gehend bestimmt, dass

auf die dem gleichen Begriff im Bereich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft gegebene Auslegung abzustellen ist, insbesondere auf die Art 10 I VO 1612/68/EWG zuerkannte Bedeutung“.

Im Übrigen enthält Art. 7 S. 1 keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Bedeutung des Begriffs „Familienangehöriger“ des Arbeitnehmers auf dessen Blutsverwandte beschränkt wäre.

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Familienangehörige i.S.d. Vorschrift müssen keine türkischen Staatsangehörigen sein

Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen v. 07.06.2012, Dülger, C-451/11, Rn. 25 ff.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 S. 1 einem doppelten Zweck dient. Zunächst sollen nach der genannten Vorschrift bis zum Ablauf der ersten drei Jahre Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen.

EuGH, U. v. 29.03.2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C-9/10, Rn. 32.

Außerdem soll diese Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem betroffenen Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Hauptzweck ist also, den Zusammenhalt der Familie, deren Hauptbestandteil, nämlich das Ehepaar, sich bereits in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu festigen

EuGH, U. v. 29.03.2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C-9/10, Rn. 33

Dadurch, dass der Ehepartner die Möglichkeit erhält, dort seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, verstärkt diese Vorschrift die potenzielle wirtschaftliche Situation der Familie, eine Situation, die einen unbestreitbaren Integrationsfaktor darstellt. Geht es aber um die Stärkung der Integration und des Zusammenhalts der Familien ist es nicht von Bedeutung, ob der Familienangehörige, der die Genehmigung erhalten hat, zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, die türkische Staatsangehörigkeit besitzt oder nicht. Die Familie definiert sich nicht durch den Besitz derselben Staatsangehörigkeit, sondern durch enge Bindungen, die zwei oder mehrere Personen vereinen, sei es durch rechtliche Bindungen, die z.B. wie im Ausgangsverfahren durch Heirat entstehen, oder durch Blutsverwandtschaft

Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen v. 07.06.2012, Dülger, C-451/11, Rn, 32

Hat der EuGH den Begriff des Familienangehörigen mit dem Familienbegriff des Art. 10 VO 1612/68/EWG gleichgestellt, so ist der Kreis der Begünstigten im Gemeinschaftsrecht seit dem 01.05.2006 erweitert worden. Denn nach Art. 38 Abs. 1 Freizügigkeits-RL wurde Art. 10 VO 1612/68/EWG mit Wirkung zum 30.04.2006 aufgehoben. Zugleich bestimmt Art. 38 Abs. 3 Freizügigkeits-RL, dass Bezugnahmen auf die aufgehobenen Bestimmungen oder Richtlinien als Bezugnahmen auf die vorliegende RL gelten.

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Fraglich ist, ob diese Änderung des Unionsbürgerrechts Einfluss auf die Begrifflichkeit des Familienangehörigen im völkerrechtlichen Vertrag mit der Türkei hat. Dies hätte zur Folge, dass nicht nur für Unionsbürger, sondern auch für türkische Staatsangehörige, die Rechte aus Art. 7 ableiten wollen, die Definition des Familienangehörigen nach Art. 2 Nr. 2 Freizügigkeits-RL maßgeblich ist; auch wenn die Richtlinie nur durch Übertragung und nicht direkt auf türkische Staatsangehörige Anwendung findet. Danach bezeichnet der Ausdruck „Familienangehöriger“:

  1. den Ehegatten;
  2. den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;
  3. die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners i.S.v. lit. b, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;
  4. die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners i.S.v. lit. b, denen von diesen Unterhalt gewährt wird.

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Durch die Erweiterung des Familienbegriffs durch Art. 2 Nr. 2 Freizügigkeits-RL werden auch Lebenspartner, die auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen sind, erfasst.

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Die Frage, ob ein Partner, der eine feste Beziehung zu einem Arbeitnehmer unterhält, als Ehegatte i.S.d. Art. 7 anzusehen ist, hat der EuGH verneint.

„Mangels eines Hinweises auf eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, die eine weite Auslegung rechtfertigen würde, und mangels eines gegenteiligen Hinweises in der Verordnung ist festzustellen, dass Art 10 der Verordnung durch die Verwendung des Wortes ‚Ehegatte‘ auf eine Beziehung verweist, die auf der Ehe beruht.“

EuGH, U. v. 17.04.1986, Reed, C-59/85, zu Art. 10 I VO 1612/68/EWG

Wegen Art. 59 ZP kann der Begriff des Ehegatten daher auch im Rahmen des Art. 7 nicht erweiternd auf eheähnliche Beziehungen erstreckt werden. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtssache Eyüp,

EuGH, U. v. 22.06.2000, Eyüp, C-65/98,

wo der EuGH erkennbar dem atypischen Einzelfall Rechnung tragen wollte und ausnahmsweise nach der Scheidung der Ehegatten von einem Fortbestehen der ehelichen Gemeinschaft ausgegangen ist, weil die Ehefrau auch nach der Auflösung der Ehe bis zur erneuten Eheschließung mit ihrem Ehemann zusammengelebt hat.

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In der Rechtsprechung des EuGH ist auch geklärt, dass die Scheidung der Ehe keinen Einfluss auf die Rechtsstellung des Familienangehörigen hat, sobald dieser die Rechtsstellung nach Art. 7 S. 1 erworben hat

EuGH, U. v. 22.12.2010, Bozkurt, C-303/08, Ls. 1.

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Die Familieneigenschaft von Kindern, die älter als 21 Jahre sind, ist auch i.d.R. Art. 7 von der tatsächlichen Unterhaltsgewährung durch den Arbeitnehmer abhängig zu machen. Dabei ist die Eigenschaft als Unterhalt beziehender Familienangehöriger nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH nicht von einem Unterhaltsanspruch abhängig

EuGH, U. v. 18.06.1987, Lebon, C-316/85.

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Zum Merkmal der Unterhaltsgewährung hat der EuGH zuletzt in der Rechtssache Jia

EuGH, U. v. 09.01.2007, Jia, C-1/05, Rn. 36 ff.

darauf hingewiesen, dass der der Aufnahmemitgliedstaat prüfen muss, ob die Familienangehörigen in Anbetracht ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse selbst zu decken. Der Unterhaltsbedarf muss im Herkunftsland dieser Verwandten in dem Zeitpunkt bestehen, in dem sie beantragen, dem Familienangehörigen zu folgen. Die bloße Verpflichtungserklärung, dem Familienmitglied Unterhalt zu gewähren, ist nicht als ausreichender Nachweis dafür anzusehen, dass der Familienangehörige tatsächlich unterhaltsbedürftig ist.

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Es ist ausreichend, wenn die Unterhaltsgewährung durch den Arbeitnehmer erst nach seinem Zuzug in das Bundesgebiet aufgenommen wird. Insoweit ist nicht erforderlich, dass die Unterhaltsleistungen bereits vor dem Zuzug in das Bundesgebiet gewährt wurden

Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rs. C-83/11, Rahman, Rn. 94 ff. zu Art. 3 IIa RL 2003/38/EG

 

II. Genehmigung zum Nachzug

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Art. 7 dient dem Zweck, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen. Sie begründet kein eigenständiges Nachzugsrecht und ist daher allein i.S.e. Verlängerungsanspruchs relevant. Die Formulierung in Art. 7 S. 1 „die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen“ bedeutet, dass dem Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers nach anderen Rechtsvorschriften als denen des ARB 1/80 ein Recht zur Familienzusammenführung gewährt worden sein muss.

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Die englische Fassung („who have been authorized to join him“), die dem Wortlaut des Art. 11 entspricht, zeigt aber, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht zwingend erforderlich ist. Denn „authorized“ bedeutet nur, dass das Zusammenleben von den Behörden gestattet worden sein muss. Dies erfasst auch genehmigungsfreie Sachverhalte, bei denen die Behörde nur prüft, ob die Voraussetzungen für den Verbleib des Familienangehörigen im Bundesgebiet vorliegen.

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Der EuGH hat den Normzweck des Tatbestandsmerkmals dahin gehend konkretisiert, dass „diese Voraussetzung bezweckt, diejenigen Familienangehörigen des türkischen Arbeitnehmers vom Anwendungsbereich des Art 7 I ARB 1/80 auszunehmen, die unter Verstoß gegen die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet eingereist sind und dort wohnen

EuGH, U. v. 21.12.2016, Ucar und Kilic, C-508/15 und C-509/15, Rn. 58 f.;
EuGH, U. v. 11.11.2004, Cetinkaya, C-467/02, Rn. 23.

Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass diese Bestimmung den Fall eines türkischen Staatsangehörigen erfasst, der als Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats angehört oder angehört hat, entweder die Genehmigung erhalten hat, zum Zweck der Familienzusammenführung dorthin zu diesem Arbeitnehmer zu ziehen, oder der im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat.

EuGH, U. v. 21.12.2016, Ucar und Kilic, C-508/15 und C-509/15, Rn. 59

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Dient das Merkmal der Genehmigung zum Nachzug der Ausgrenzung von Familienangehörigen, die illegal eingereist sind, ist es konsequent, wenn der EuGH die Ausübung der Rechte, die den türkischen Staatsangehörigen nach Art. 7 ARB 1/80 zustehen, nicht davon abhängig macht, aus welchem Grund ihnen die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung im Aufnahmemitgliedstaat ursprünglich erteilt wurde

EuGH, U. v. 21.12.2016, Ucar und Kilic, C-508/15 und C-509/15, Rn. 73, unter Hinweis auf EuGH, U. v. 18.12.2008, Altun, C-337/07, Rn. 42, m.w.N.

Es ist daher ohne Weiteres denkbar, dass der Nachzug zu einem anderen Aufenthaltszweck als dem Familiennachzug erfolgt ist und die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem türkischen Arbeitnehmer erst nachträglich begründet wurde. Hier wird man die Nachzugsgenehmigung in der Legalisierung des weiteren Aufenthalts sehen müssen, mit dem die Aufrechterhaltung des familiären Zusammenlebens möglich wurde.

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Neben dem Normalfall des Familiennachzugs sind eine Reihe von Fällen denkbar, in denen die Rechte des Art. 7 S. 1 zur Entstehung gelangen, ohne dass zuvor eine Genehmigung zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilt wurde. Dies betrifft u.a. folgende Fälle:

Geburt eines Kindes im Bundesgebiet
EuGH, U. v. 07.07.2005, Aydinli, C-373/03, Rn. 22
genehmigungsfreier Zuzug eines Kindes in das Bundesgebiet.

Die Genehmigung zum Nachzug i.S.d Art. 7 S. 1 hat auch derjenige Familienangehörige erhalten, der erlaubnisfrei zu einem Elternteil eingereist ist und sich hier aufhalten durfte, wenn die Behörde den zum Zwecke der Familienzusammenführung begründeten Aufenthalt nicht nachträglich zeitlich beschränkt hat,

BVerwG, B. v. 15.07.1997 – 1 C 24.96, Buchholz 402.240 § 6 AuslG 1990 Nr. 11 zu § 2 II Nr. 1 AuslG i.d.Ff v. 28.04.1965.

Verlangt das nationale Ausländerrecht für den Zuzug der Familienangehörigen die in Art. 7 vorausgesetzte Genehmigung zum Zuzug nicht, steht die genehmigungsfreie Einreise zum Zwecke der Familienzusammenführung jedenfalls dann der Genehmigung gleich, wenn die Behörde von der ihr nach § 3 V AuslG 1990 eingeräumten Befugnis, den Aufenthalt des Familienangehörigen nachträglich zeitlich zu beschränken, keinen Gebrauch gemacht hat

VGH BW, U. v. 17.8.2000 – 13 S. 950/00, InfAuslR 2000, 476.

Dies setzt voraus, dass sich das Kind des türkischen Arbeitnehmers ordnungsgemäß im Bundesgebiet angemeldet hat und sich nicht etwa illegal bei seinen Eltern aufhielt. Denn nur bei Anmeldung hatte die Ausländerbehörde die Möglichkeit, den genehmigungsfreien Aufenthalt des Kindes nachträglich zu befristen.

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Bei einer erst im Bundesgebiet erfolgten Eheschließung ist die Rechtsstellung nach Art. 7 S. 1 nicht von einer vorher einzuholenden Genehmigung zum Zuzug abhängig wenn Fallgestaltungen des § 39 Nr. 3–5 AufenthV oder des § 5 II 2 vorliegen. Macht das nationale Recht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht von der vorherigen Durchführung eines Visumverfahrens abhängig, so kann einem Ehegatten auch später nicht die Rechtsstellung aus Art. 7 S. 1 unter Hinweis auf die fehlende Zuzugsgenehmigung abgesprochen werden. Gleiches gilt, wenn der Ehegatte bereits eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Niederlassungserlaubnis besitzt und keine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Familienzusammenführung einholen muss oder als Asylberechtigter, Flüchtling bzw. subsidiär Schutzberechtigter anerkannt wurde. Ist die Durchführung eines Visumverfahrens völkerrechtlich oder unionsrechtlich nicht zumutbar, so kann die Rechtsstellung nach Art. 7 S. 1 hiervon nicht abhängig gemacht werden.

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Der Anspruch aus Art. 7 S. 1 setzt neben einem aktuell bestehenden Aufenthalt des die Position vermittelnden türkischen Staatsangehörigen voraus, dass dieser Familienangehörige türkischer Staatsangehöriger ist und damit überhaupt Rechte aus dem Assoziationsratsbeschluss vermitteln kann. Verliert der die Position des Art. 7 S. 1 vermittelnde türkische Staatsangehörige die türkische Staatsangehörigkeit, z.B. infolge des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, bevor zumindest die Drei-Jahres-Frist abgelaufen ist, dann kann ein Familienangehöriger keine Rechte (mehr) gem. Art. 7 S. 1 von ihm ableiten

Ebenso VG Ansbach, B. v. 24.03.2003 – AN 19 S 03.00 340;

anders ist dies nur, wenn die Rechte aus Art. 7 S. 1 bereits vor der Einbürgerung des Stammberechtigten entstanden sind; diese Rechte gehen dann durch die Einbürgerung nicht mehr verloren.

Dies folgt bereits aus dem klaren Wortlaut der Vorschrift („Die Familienangehörigen eines […] türkischen Arbeitnehmers […]“), aber auch aus deren Sinn und Zweck, der darin liegt, neben der erleichterten Familienzusammenführung die schrittweise Eingliederung türkischer Staatsangehöriger in den deutschen Arbeitsmarkt, verbunden mit dem hierfür nötigen Aufenthaltsrecht, zu ermöglichen. Auch der Zweck der assoziationsrechtlichen Bestimmungen dürfte in dieser Situation gegen die Anwendung des Art. 7 sprechen. Denn durch diese Norm soll die Situation der in Deutschland in gefestigter Position auf dem regulären Arbeitsmarkt beschäftigten türkischen Arbeitnehmer dadurch verbessert werden, dass der Nachzug ihrer Familienangehörigen durch deren bevorzugte Integration in den deutschen Arbeitsmarkt erleichtert wird

Vgl. Hess.VGH, B. v. 23.07.2007 – 11 UZ 601/07, InfAuslR 2008, 7.

 

III. Türkischer Arbeitnehmer

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Art. 7 S. 1 setzt voraus, dass der Zuzug zu einem türkischen Arbeitnehmer erfolgt sein muss. Anders als die Person des Familienangehörigen muss der Arbeitnehmer die türkische Staatsangehörigkeit besitzen. Art. 7 privilegiert Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers. Wegen des Arbeitnehmerbegriffs wird auf Art. 6 I verwiesen. Es ist nicht erforderlich, dass der Arbeitnehmer selbst eine Rechtsposition aus dem ARB 1/80 erlangt hat. Auch dann, wenn der Arbeitnehmer noch nicht die Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 erworben hat, kann er seinen Familienangehörigen die Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 vermitteln. Famlienangehörige haben, abgestuft nach der Dauer des ordnungsgemäßen Wohnsitzes im Inland, gem. Art. 7 S. 1 freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Bei Abschluss einer Berufsausbildung im Aufnahmeland steht ihnen unter den Voraussetzungen des Art. 7 S. 2 unabhängig von der eigenen Aufenthaltsdauer der Arbeitsmarkt offen. Art. 6 und 7 sind nebeneinander anwendbar. Art. 7 stellt keine abschließende Spezialregelung für Familienangehörige dar. Sind die Voraussetzungen des Art. 6 I erfüllt, so kann ein Familienangehöriger unabhängig von Art. 7 ein Beschäftigungsrecht und daraus folgend ein Aufenthaltsrecht auch aus Art. 6 erwerben (ebenso Rn. 3.2 AAH-ARB 1/80).

EuGH, U. v. 05.10.1994, Eroglu, C-355/93

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Auch ein als Asylbewerber eingereister türkischer Staatsangehöriger kann seinen Familienangehörigen ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 S. 1 vermitteln.

VGH BW B. v. 30.06.2005 – 13 S 881/05, Rn. 17.

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Verliert der türkische Arbeitnehmer seine türkische Staatsangehörigkeit, zu führt dies nicht zum Wegfall von bereits erworbenen Rechtsstellungen der Familienangehörigen nach Art. 7 S. 1.

OVG RhPf, B. v. 29.06.2009 – 7 B 10454/09;
VG Freiburg, U. v. 19.01.2010 – 3 K 2399/08.

Denn der EuGH hat mehrmals klargestellt, dass die Rechtsstellung der Familienangehörigen nach Erwerb der Rechtsstellung nur noch unter zwei Voraussetzungen entfallen kann: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 I dar oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet des Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen. Dabei ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter der beiden genannten Verlustgründe auszugehen.

 Vgl. BVerwG, U. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08;
EuGH, U. v. 25.09.2008, Hakan Er, C-453/07

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Hiervon zu unterscheiden ist der Fall, dass während der Erwerbsphase der Rechtsstellung nach Art. 7 S. 1 von dem Arbeitnehmer die deutsche Staatsangehörigkeit erworben wird. Tritt diese im Wege der doppelten Staatsangehörigkeit neben die deutsche Staatsangehörigkeit, so kann der Familienangehörige weiterhin Rechte von dem türkischen Arbeitnehmer ableiten. Insoweit hat der EuGH in den Rechtssache Kahveci und Inan entschieden, dass Art. 7 dahin gehend auszulegen ist, dass die Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, sich weiterhin auf diese Bestimmung berufen können, wenn dieser Arbeitnehmer die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erhalten hat und gleichzeitig die türkische Staatsangehörigkeit beibehält.

EuGH, U. v. 29.03.2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C-9/10

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Gibt der türkische Arbeitnehmer hingegen während der Erwerbsphase seine bisherige Staatsangehörigkeit auf, so kann er die Rechte aus Art. 7 S. 1 nicht mehr an seine Familienangehörigen vermitteln.

OVG RhPf, B. v. 29.06.2009 – 7 B 10454/09;
Hess.VGH, B. v. 23.07.2007 – 11 UZ 601/07;
vgl. auch EuGH, U. v. 11.11.1999, Mesbah, C-179/98, zum Kooperationsabkommen mit Marokko, wonach sich der Familienangehörige eines marokkanischen Wanderarbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates erwirbt, bevor der Familienangehörige beginnt, mit ihm in dem betr. Mitgliedstaat zusammenzuleben, nicht auf das Abkommen berufen kann.

Mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit bedarf der Betreffende weder eines Beschäftigungs- noch eines davon abhängigen Aufenthaltsrechts nach dem ARB 1/80. Wegen des Erwerbs des Inländerstatus und des Verlusts der türkischen Staatsangehörigkeit kann er für seinen Aufenthalt in Deutschland keine Rechte mehr aus dem Assoziierungsabkommen herleiten, denn Art. 7 dient der Integration der Familienangehörigen im Mitgliedstaat.

VG Freiburg, U. v. 19.01.2010 – 3 K 2399/08 unter Hinweis auf BVerwG, U. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08.

Beide Zwecke haben sich aber mit dem Erwerb der deutschen und dem gleichzeitigen Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit erledigt. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die Betreffenden die türkische bzw. die ausländische Staatsangehörigkeit wieder erwerben und dadurch die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren könnten und dann wieder auf die Rechtsstellung aus dem Assoziationsratsbeschluss angewiesen sein könnten. Denn die Einbürgerung in den deutschen Staatsverband ist auf Dauer angelegt und hat grundsätzlich eine Entlassung aus der früheren Staatsangehörigkeit zur Voraussetzung, mit allen aus dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erwachsenden günstigen sowie aus dem Verlust der türkischen bzw. ausländischen Staatsangehörigkeit sich ergebenden negativen Folgen für die Betroffenen.

VG Freiburg, U. v. 19.01.2010 – 3 K 2399/08.

Dazu zählt auch der Verlust der Rechtsstellung aus dem Assoziationsratsbeschluss.

 

IV. Ordnungsgemäßer Wohnsitz

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Beide Alternativen des Art. 7 S. 1 erfordern, bevor Rechte hieraus in Anspruch genommen werden können, einen mindestens dreijährigen (bzw. bei der 2. Alt. einen fünfjährigen) ununterbrochenen ordnungsgemäßen Wohnsitz im Inland. Während dieses Zeitraums muss eine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem türkischen Arbeitnehmer bestehen. In der Rechtssache Kadiman hat der EuGH klargestellt, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, „die Möglichkeit für die Familienangehörigen, ihre Rechte aus Art 7 S. 1 zu beanspruchen, davon abhängig zu machen, dass sich die Familienzusammenführung, die der Grund für ihre Einreise war, in einem tatsächlichen Zusammenleben mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft manifestiert“.

EuGH, U. v. 17.04.1997, Kadiman, C-351/95

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Dabei hat der EuGH in der Rechtssache Kadiman zugleich klargestellt, dass der Familienangehörige nach dem Geist und dem Regelungszweck des Art. 7 S. 1 1. Spiegelstrich zwar grundsätzlich seinen Wohnsitz während dieser drei Jahre ununterbrochen bei dem türkischen Wanderarbeitnehmer haben muss, dass aber für die Zwecke der Berechnung des dreijährigen ordnungsgemäßen Wohnsitzes i.S.d. Vorschrift kurzfristige Unterbrechungen der tatsächlichen Lebensgemeinschaft, ohne die Absicht, den gemeinsamen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat aufzugeben, wie eine Abwesenheit aus berechtigten Gründen vom gemeinsamen Wohnsitz für einen angemessenen Zeitraum oder ein weniger als sechs Monate währender unfreiwilliger Aufenthalt im Heimatland des Betroffenen zu berücksichtigen sind.

EuGH, U. v. 17.04.1997, Kadiman, C-351/95; bestätigt durch EuGH, U. v. 22.06.2000, Eyüp, C-65/98.

Für Unterbrechungen, in denen der Familienangehörige aus Rechtsgründen keinen ordnungsgemäßen Wohnsitz nachweisen kann – z.B. weil er nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis war –, gilt, dass diese Zeiten ebenfalls anrechenbar sind, wenn die zuständige Behörde die Ordnungsmäßigkeit des Wohnsitzes nicht infrage gestellt, sondern ihm vielmehr eine neue Aufenthaltserlaubnis erteilt hat.

EuGH, U. v. 17.04.1997, Kadiman, C-351/95;
EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97

Insoweit hat der EuGH ausgeführt:

„Insoweit ist unerheblich, dass der Kläger zwischen 1985 und 1989 dreimal die Verlängerung seiner befristeten Aaufenthaltserlaubnis jeweils erst nach dem Ablauf von deren Geltungsdauer beantragt hat, so dass er während kurzer Zeiträume nicht im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis war, denn die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats haben die Ordnungsgemäßheit seines Aufenthalts deswegen nicht in Frage gestellt, sondern ihm vielmehr jedes Mal eine neue Aufenthaltsgenehmigung erteilt (…).“

EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97

Darüber hinaus ist durch die Rechtsprechung des EuGH klargestellt, dass die erworbene Rechtsposition nach Aufhebung der familiären Bande bzw. Wegfall des ordnungsgemäßen Wohnsitzes nicht entfällt :

„Die praktische Wirksamkeit dieses Rechts setzt zwangsläufig die Existenz eines entsprechenden Aufenthaltsrechts voraus, das ebenfalls auf dem Gemeinschaftsrecht beruht und vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig ist.“

EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97

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Weiterhin verlangt die Rechtsposition nach Art. 7 S. 1 von dem Berechtigten nicht, dass er erwerbstätig wird, um die Rechtsstellung zu erhalten. Der EuGH hat bereits in der Rechtssache Eyüp die eigenständige Bedeutung der Familienzusammenführung hervorgehoben. Danach bezweckt Art. 7 S. 1, die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu fördern, um die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaats angehört, dadurch zu erleichtern, dass die Familienangehörigen, die zu dem Wanderarbeiter ziehen durften, zunächst bei diesem leben dürfen und später zudem das Recht erhalten, in diesem Staat eine Beschäftigung aufzunehmen. Die Bedeutung der Rechtsposition aus Art. 7 S. 1 liegt in der Förderung familiärer Belange mit dem Ziel, die Aufnahmebedingungen für den türkischen Arbeitnehmer, zu denen der Zuzug erfolgt, zu verbessern.

EuGH, U. v. 22.06.2000, Eyüp, C-65/98

Eine endgültige Klärung wurde durch die Entscheidung in der Rechtssache Aydinli herbeigeführt, in der der EuGH ausdrücklich klarstellt, dass Art. 7 den Familienangehörigen keine Verpflichtung auferlegt, eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis auszuüben, wie sie in Art. 6 I vorgesehen ist.

EuGH, U. v. 07.07.2005, Aydinli, C-373/03, Rn. 22

 

V.   Erlöschen der Rechtsposition

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Art. 7 enthält – anders als Art. 6 II – keine Regelung über den Verlust bzw. über den Fortbestand der Rechtsposition oder über die Behandlung von Abwesenheitszeiten türkischer Arbeitnehmer. Dass die Rechtsstellung aus Art. 7 S. 1 nicht schrankenlos gewährleistet ist, hat der EuGH bereits in der Rechtssache Ergat entschieden. Dort hat er sich zum Wegfall der Rechtsstellung aus Art. 7 S. 1 wie folgt geäußert:

„Zweitens verliert ein Familienangehöriger, der die Genehmigung erhalten hat, zu einem türkischen Arbeitnehmer in einen Mitgliedstaat zu ziehen, der jedoch das Gebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlässt (vgl dazu Urteil Kadiman, Rn 48), grundsätzlich die Rechtsstellung, die er aufgrund des Art 7 S. 1 erworben hatte.“

EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97

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In der Rechtssache Cetinkaya hat der EuGH ausgeführt, dass das Recht aus Art. 7 S. 1 „nur“ unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden könne, nämlich nach Art. 14 Abs. 1 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder weil der Betroffene das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigte Gründe verlassen hat.

EuGH, U. v. 11.11.2004, Cetinkaya, C-467/02, Rn. 38.

In der Rechtssache Aydinli hat der EuGH seine Entscheidung in der Sache Cetinkaya nochmals bestätigt.

EuGH, U. v. 07.07.2005, Aydinli, C-373/03, Rn. 29

Dabei ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter dieser beiden Verlustgründe auszugehen.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 14,
Urt. v. 09.08.2007 – 1 C 47.06, Rn. 15 und
Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08, Rn. 24.

30

Durch die Rechtsprechung des EuGH ist noch nicht abschließend geklärt, was unter einem „nicht unerheblichen Zeitraum“ oder, worauf die Urteilsgründe in anderen Amtssprachen eher hindeuten (französisch: „pendant une période significative“, englisch: „for a significant length of time“, italienisch: „per un periodo significativo“, spanisch: „durante un período de tiempo significativo“), unter einen bedeutsamen Zeitraum zu verstehen ist.

Auf die Sprachfassungen weist das VG Darmstadt im B. v. 12.11.2010 – 5 L 1411/10.DA – hin.

31

Durch den EuGH ist geklärt, dass kurzzeitige Fehlzeiten jedenfalls dann nicht bedeutsam sind, wenn die Behörden die Ordnungsmäßigkeit des Aufenthalts deswegen durch spätere Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht infrage gestellt haben.

EuGH, U. v. 17.04.1997, Kadiman, C-351/95, Rn. 54

Der EuGH hat weiterhin entschieden, dass eine freiwillige Abwesenheit vom Bundesgebiet von gut einem Jahr das Recht aus Art. 7 S. 1 nicht erlöschen lasse ;

EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97

daher auch kein Erlöschen des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 S. 1 bei Rückkehr aus der Türkei nach mehr als sieben Monaten nach Ende der Wehrdienstableistung.

BayVGH, B. v. 15.10.2009 – 19 CS 09.2194, InfAuslR 2010, 7.

Ob auch längere Abwesenheiten das Recht aus Art. 7 unberührt lassen, ist dagegen in der Rechtsprechung des EuGH nicht geklärt.

32

Das Verständnis dieses Erlöschensgrundes ist vom Ziel und Zweck des Art. 7 her zu bestimmen.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 16.

Nach der Rechtsprechung des EuGH dient das System des schrittweisen Erwerbs von Rechten aus Art. 7 Abs. 1 zwei Zwecken:

Zum einen sollen Familienangehörige des Wanderarbeitnehmers bis zum Ablauf des ersten Zeitraums von drei Jahren die Möglichkeit erhalten, bei diesem zu leben, um durch Familienzusammenführung die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der sich bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, zu begünstigen.

Zum anderen soll die Vorschrift eine dauerhafte Eingliederung der Familie des türkischen Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat fördern, indem dem Familienangehörigen nach drei Jahren ordnungsgemäßen Wohnsitzes selbst der Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht wird.

33

Hauptzweck ist also, die Stellung des Familienangehörigen, der sich in dieser Phase bereits ordnungsgemäß in den Aufnahmemitgliedstaat integriert hat, dadurch zu festigen, dass er die Mittel erhält, dort selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sich folglich eine gegenüber der Stellung des Wanderarbeitnehmers selbstständige Stellung aufzubauen.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 16;
EuGH, U. v. 22.06.2000, Eyüp, C-65/98, Rn 26,
EuGH, U. v. 11.11.2004, Cetinkaya, C-467/02, Rn. 25,  und
EuGH, U. v. 29.03.2012, Kahveci und Inan, C-7/10 und C-9/10, Rn. 33.

34

Art. 7 I zielt demzufolge darauf ab, das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht nach seiner Entstehung aus der Abhängigkeit von der beschäftigungsbezogenen Rechtsstellung des Stammberechtigten zu lösen und dem Familienangehörigen zum Zweck der Integration im Mitgliedstaat eine autonome Rechtsposition zu verschaffen.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 17;
BVerwG, U. v. 09.08.2007 – 1 C 47.06, Rn. 16;
EuGH, U. v. 07.07.2005, Aydinli, C-373/03, Rn. 23

35

Mit Blick auf dieses Regelungsziel kommt es im Fall eines längeren Auslandsaufenthalts des assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen bei der Bewertung aller Umstände des Einzelfalls, ob er das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat, maßgeblich darauf an, ob er seinen Lebensmittelpunkt aus Deutschland wegverlagert hat.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14 Rn. 18.

Dabei stehen das zeitliche Moment und die Gründe für das Verlassen des Bundesgebiets nicht isoliert nebeneinander; vielmehr besteht zwischen ihnen ein Zusammenhang: Je länger der Betroffene sich im Ausland aufhält, desto eher spricht das dafür, dass er seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland aufgegeben hat.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14 Rn. 18.

Ab einem Auslandsaufenthalt von ungefähr einem Jahr müssen gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sein Lebensmittelpunkt noch im Bundesgebiet ist.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 18.

36

Zeitlicher Maßstab für die Auslegung, nach der das Verlassen des Bundesgebiets zum Erlöschen des Daueraufenthaltsrechts nach Art. 7 führt, kann nicht Art. 16 IV Freizügigkeits-RL sein.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 18;
a.A. die vormalige Kommentierung unter Hinweis auf OVG Bln-Bbg U. v. 11.05.2010 – OVG 12 B 26.09, InfAuslR 2010, 372; NdsOVG B. v. 11.01.2008 – 11 ME 418/07; OVG NRW U. v. 06.12.2011 – 18 A 2765/07, AuAS 2012, 111; hierzu auch BVerwG, U. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08.

Soweit danach Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, ein Daueraufenthaltsrecht erwerben (Art. 16 I, II Freizügigkeits-RL), bestimmt Art. 16 IV Freizügigkeits-RL, dass (nur) die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreitet, zu einem Verlust des Rechts führt. Nach dieser Vorschrift führt, wenn das Recht auf Daueraufenthalt von einem Unionsbürger oder seinem Familienangehörigen erworben wurde, nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinanderfolgende Jahre überschreitet, zum Rechtsverlust. Das BVerwG hat diese Regelung, die nicht nach Gründen für die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat differenziert, mit Blick auf das Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP lediglich als Orientierungsrahmen im Sinne einer zeitlichen Höchstgrenze angeführt .

EuGH U. v. 08.12.2011, Ziebell, C-371/08, Rn. 62 ff.

37

Nachdem der EuGH seit Aufhebung der RL 64/221/EWG durch die Freizügigkeits-RL den Ausweisungsschutz aus Art. 12 Daueraufenth-RL ableitet,

BVerwG U. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08, BVerwGE 134, 27 Rn. 27

wirkt sich dies auch auf die Bestimmung des zeitlichen Rahmens bei dem hier zu prüfenden Erlöschensgrund aus.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 20.

Denn die vom EuGH im Wege des Vergleichs von Zweck und Kontext des Assoziierungsabkommen EWG–Türkei und der Freizügigkeits-RL angeführten Erwägungen, das Assoziationsabkommen verfolge nur wirtschaftliche Zwecke, während die Freizügigkeits-RL darüber hinaus die Unionsbürgerschaft als grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten mit ihrem unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren Freizügigkeitsrecht ausforme, sind allgemeiner Natur.

38

Daraus folgt indes nicht gleichsam im Gegenschluss, dass Art. 9 I lit. c Daueraufenth-RL entsprechend anzuwenden ist, um den „nicht unerheblichen Zeitraum“ i.S.d. Rechtsprechung des EuGH exakt zu fixieren .

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 21,
hierzu auch OVG Bbg U. v. 14.04.2016 – OVG 11 B 11.15, Rn. 32.

Nach dieser Vorschrift ist ein Drittstaatsangehöriger nicht mehr berechtigt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, wenn er sich während eines Zeitraums von zwölf aufeinanderfolgenden Monaten nicht im Gebiet der Gemeinschaft aufgehalten hat. Da diese Vorschrift nicht nach den Gründen für den Aufenthalt außerhalb des Gebiets der EU differenziert, erscheint sie als abschließende Regelung zur Kon-kretisierung des hier maßgeblichen Erlöschensgrundes ungeeignet.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 21.

Dennoch sind die Maßstäbe der Daueraufenth-RL als unionsrechtlicher Bezugsrahmen nicht nur für die Bestimmung des Abschiebungsschutzes heranzuziehen, sondern auch für den hier maßgeblichen Verlustgrund.

39

Ein „nicht unerheblicher Zeitraum“ i.S.d. Rechtsprechung ist jedenfalls dann verstrichen, wenn ein türkisches Ehepaar mit seinen minderjährigen, schulpflichtigen Kindern den Aufnahmemitgliedstaat verlässt, um das Familienleben zukünftig auf unabsehbare Dauer im Heimatland fortzuführen.

NdsOVG B. v. 19.09.2011 – 11 LA 198/11.

Denn durch die Aufgabe seines Lebensmittelpunkts im Bundesgebiet wird der im Wege des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 erreichte Integrationszusammenhang zerrissen.

BVerwG, U. v. 25.03.2015 – 1 C 19.14, Rn. 22.

Kurze Besuchsaufenthalte des einen Ehepartners ohne die übrigen Familienmitglieder im Aufnahmemitgliedstaat können in einem Fall der (Rück)Übersiedlung in die Türkei das Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts dieses Familienmitglieds nicht verhindern.

NdsOVG B. v. 19.09.2011 – 11 LA 198/11.

40

Was unter „berechtigten Gründen“ zu verstehen ist, hat der EuGH gleichfalls nicht näher präzisiert. Der Begriff ist – wie alle Bestimmungen des ARB – europarechtlich auszulegen. Ob ein Grund „berechtigt“ ist, hängt, wie die Urteilsgründe in anderen Amtssprachen nahelegen (französisch: „sans motifs légitimes“, englisch: „without legitimate reason“, italienisch: „senza motivi legittimi“ und spanisch: „sin motivos legítimos“), allein davon ab, ob die Gründe „legitim“, also allgemein gesellschaftlich anerkannt sind, mithin nicht, ob sie aus dem subjektiven Blickwinkel des Ausländers berechtigt erscheinen.

So VG Darmstadt B. v. 12.11.2010 – 5 L 1411/10.DA Rn. 21.

Es kommt daher darauf an, ob die Gründe ihrer Abwesenheit von Deutschland von der Allgemeinheit anzuerkennen oder eher zu missbilligen sind. Insoweit hat das BVerwG entschieden, dass legitime Gründe nicht vorliegen, wenn der Betroffene in der Absicht ins Ausland reist, dort Straftaten zu begehen, bei deren Entdeckung er mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen hat.

BVerwG U. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08;
OVG Bbg B. v. 01.03.2012 – OVG 11 S 1.12, Rn. 13.

Ein türkischer Staatsangehöriger, der das Bundesgebiet verlässt, um sich durch Flucht für einen nicht überschaubaren Zeitraum der ihm hier drohenden Strafverfolgung zu entgehen, verliert aus diesem Grund gleichfalls seine Rechte aus Art. 7.

VGH BW U. v. 15.04.2011 – 11 S 189/11, Rn. 43.

41

Berechtigte Gründe liegen vor, wenn der Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat entweder die Verfolgung anerkennenswerter Interessen zugrunde liegt (z.B. Urlaub, Besuch der Familie im Heimatland) oder der Aufenthalt außerhalb des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats nicht vom eigenen Willen abhängig war (z.B. Unfall, Naturereignisse, Zwangsehe, Passentzug).

Hierzu OVG NRW U. v. 06.12.2011 – 18 A 2765/07.

Berechtigte Gründe stellen darüber hinaus aber auch die in Art. 6 II sowie Art. 16 III Freizügigkeits-RL benannten Gründe, nämlich Schwangerschaft, Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung sowie berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat dar .

Hierzu OVG NRW U. v. 06.12.2011 – 18 A 2765/07.

42

In der Rechtssache Kadiman

EuGH, U. v. 17.04.1997, Kadiman, C-351/95, Rn. 48

hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass im Rahmen der Beurteilung einer längeren Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat auf die Freiwilligkeit abzustellen sei. Es sei zu prüfen, ob der auf längere Zeit angelegte Aufenthalt in der Türkei vom Willen des Betroffenen getragen war oder nicht. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass ein auf äußerem Zwang beruhender und durch fehlende Freiwilligkeit gekennzeichneter Aufenthalt außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats für die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung nach Art. 7 stets unschädlich wäre.

So NdsOVG, U. v. 27.03.2008 – 11 LB 203/06;
BVerwG, U. v. 30.04.2009 – 1 C 6.08;
Hierzu OVG NRW, U. v. 06.12.2011 – 18 A 2765/07.

Hintergrund der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kadiman war, dass der Ehemann der Klägerin in jenem Verfahren bei einem gemeinsamen Aufenthalt in der Türkei den Pass seiner Ehefrau an sich genommen hatte und ohne sie in das Bundesgebiet zurückgekehrt war. Bei dieser Sachlage kann die Entscheidung des EuGH nur so verstanden werden, dass ein unfreiwilliger Aufenthalt im Heimatland nur dann vorliegt, wenn dieser Aufenthalt des Betroffenen „nicht von seinem eigenen Willen abhängig war“.

43

Bei Berücksichtigung dieser Anhaltspunkte spricht Überwiegendes dafür, dass der EuGH schon dann „berechtigte Gründe“ annehmen wird, die trotz längerer Abwesenheit die Aufrechterhaltung des aufenthaltsrechtlichen Status nach Art. 7 rechtfertigen, wenn eine türkische Staatsangehörige in einer soziokulturell bedingten psychischen Zwangslage, welche die freie Willensbetätigung wesentlich beeinträchtigt, einen Aufnahmemitgliedstaat verlässt und nach einer Zwangsheirat aus denselben Gründen zu einer dauerhaften Rückkehr in den Aufnahmemitgliedstaat (zunächst) nicht in der Lage ist.

So HmbOVG, B. v. 14.07.2009 – 4 Bs 109/09, Rn. 11.

44

Die Konkretisierung des Verlassens des Hoheitsgebiets des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe hat sich am Regelungszweck des Art. 7 zu orientieren. Die Vorschrift bezweckt, die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, dadurch zu fördern, dass ihm in diesem Staat die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande ermöglicht wird. Zur Förderung der dauerhaften Eingliederung der Familie des türkischen Arbeitnehmers gewährt die Vorschrift den Familienangehörigen des Arbeitnehmers nicht nur ein Aufenthaltsrecht, sondern überdies nach einer bestimmten Zeit das Recht, im Aufnahmemitgliedstaat eine Beschäftigung auszuüben. Die fortschreitende persönliche Integration des türkischen Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat soll erleichtert und gefördert werden.

EuGH, U. v. 17.04.1997, Kadiman, C-351/95.

Unter Berücksichtigung dieser Zielsetzung können Abwesenheiten vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ihrem Zeitraum nach jedenfalls dann nicht mehr als unerheblich angesehen werden, wenn sie der Verfestigung der persönlichen Integration des aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen entgegenstehen. Die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat darf sich nicht auf einen derart langen Zeitraum erstrecken, dass sie dem Regelungszweck des Art. 7, dem türkischen Arbeitnehmer die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen und die dauerhafte Eingliederung der Familie zu fördern, zuwiderläuft.

NdsOVG B. v. 11.01.2008 – 11 ME 418/07. Abwesenheit von mehr als sechs Monaten (vgl. Gutmann, GK-AufenthG ARB 1/80 Art. 6 Rn. 257, Art. 7 Rn. 95; Huber, AufenthG ARB 1/80 Art. 6 Rn. 71, Art. 7 Rn. 21) oder von mehr als zwei Jahren (vgl. OVG Bbg U. v. 11.05.2010 – 12 B 26/09 Rn. 38; BayVGH B. v. 15.10.2009 – 19 CS 09.2193 und 2194 Rn. 11, jeweils mwN).

45

Die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit vermag die Rechtsstellung nach Art. 7 nicht zum Wegfall zu bringen .

BVerwG, Urt. v. 09.08.2007 – 1 C 47.06.

Dies ergibt sich bereits aus dem Zweck der Rechtsstellung, die auf die Förderung der Familie abzielt. Denn der EuGH folgert den Zweck der verselbstständigten Rechtsposition aus Art. 7 S. 1 aus dem Zweck des ARB 1/80, im sozialen Bereich die rechtliche Situation zugunsten der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen zu verbessern, um schrittweise die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen. Dieser Zweck werde nicht erreicht, wenn ein Mitgliedstaat durch aufenthaltsbeschränkende Vorschriften die Rechte aus dem „bedingungslos“ gewährten Art. 7 S. 1 2. Spiegelstrich in dem Augenblick nehme, in dem er aufgrund des Zugangs zu einer von ihm gewählten Beschäftigung die Möglichkeit habe, sich dauerhaft in den Aufnahmestaat zu integrieren .

EuGH, U. v. 16.03.2000, Ergat, C-329/97, Rn. 43

Dies zeigt, dass die durch Art. 7 S. 1 eingeräumte Begünstigung zunächst zwar den Stammberechtigten und dessen Interesse an einem Zusammenleben mit seinen Familienangehörigen im Auge hat, dass sich nach einer gewissen Zeit aber die Position des Familienangehörigen verselbstständigt, ohne dass dessen Rechte auf Stellenbewerbung und Zugang zum Arbeitsmarkt gerichtet sein müssen. Der akzessorische Charakter des Aufenthaltsrechts, also seine Abhängigkeit von dem türkischen Arbeitnehmer, von dem der Familienangehörige die Rechtsstellung ableitet, tritt zurück, betont wird demgegenüber die eigenständige Person des Familienangehörigen.

Vgl. Mallmann, Neuere Rechtsprechung zum assoziationsrechtlichen Aufenthalt türkischer Familienangehöriger, ZAR 2006, 50.

Entfällt die Rechtsposition nicht, wenn der Familienangehörige dauerhaft dem Arbeitsmarkt fernbleibt, so wäre nicht nachvollziehbar, wenn die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit der Rechtsstellung schaden soll.

Im Erg. ebenso Gutmann in GK-AuslR IX-1 Art. 7 Rn. 91.

46

Der Erwerb der Rechtsstellung setzt auch nicht voraus, dass der türkische Staatsangehörige während des gesamten Zeitraums des Rechtserwerbs als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen ist. In der Rechtssache Altun hat der EuGH festgestellt,

EuGH U. v. 18.12.2008, Altun, C-337/07, Ls. 1.

dass Art. 7 S. 1 dahin gehend auszulegen ist, „dass das Kind eines türkischen Arbeitnehmers die Rechte aus dieser Bestimmung in Anspruch nehmen kann, wenn der betreffende Arbeitnehmer während des Zeitraums von drei Jahren, in dem das Kind mit ihm zusammengelebt hat, zweieinhalb Jahre lang erwerbstätig und anschließend sechs Monate lang arbeitslos war“. Ein türkischer Arbeitnehmer gehört trotz einer vorübergehenden Unterbrechung seines Arbeitsverhältnisses für den Zeitraum, der angemessen ist, um eine andere Beschäftigung zu finden, weiterhin dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats an, und zwar unabhängig davon, welchen Grund die Abwesenheit des Betroffenen vom Arbeitsmarkt hat, sofern diese Abwesenheit vorübergehender Natur ist.

EuGH, U. v. 18.12.2008, Altun, C-337/07, Rn. 24.

47

Weiterhin ist der Bestand der Rechtsstellung der Familienangehörigen nicht davon abhängig, dass der die Rechtsstellung vermittelnde türkische Arbeitnehmer sein Aufenthaltsrecht wegen einer Täuschung verloren hat. Art. 7 S. 1 ist dahin gehend auszulegen, dass die Rechte, die ein Angehöriger seiner Familie nach dieser Bestimmung hat, nicht mehr infrage gestellt werden können, weil ein türkischer Arbeitnehmer sein Aufenthaltsrecht durch unwahre Angaben erlangt hat.

EuGH, U. v. 18.12.2008, Altun, C-337/07, Ls. 3 zur täuschungsbedingten Flüchtlingseigenschaft.

48

Auch nach Vollendung des 21. Lebensjahres bleibt die Rechtsstellung türkischer Kinder nach Art. 7 S. 1 erhalten. Der EuGH hat in der Rechtssache Derin entschieden, dass es nicht gegen das Verbot der Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen gegenüber Unionsbürgern nach Art. 59 ZP verstößt, dass die aus Art. 7 S. 1 und aus Art. 7 S. 2 abgeleiteten Aufenthaltsrechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer nur in den Fällen des Art. 14 I und bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe erlöschen.

EuGH, U. v. 18.07.2007, Derin, C-325/05;
BVerwG, U. v. 09.08.2007, 1 C 47.06;
NdsOVG, U. v. 16.5.2006 – 11 LC 324/05.

49

Diese Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Derin ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen stellt sich die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für das Erlöschen der Rechtsposition; auch wenn seit dem 30.5.2006 für den Fall der 2. Alt. des Art. 7 S. 1 keine Besserstellung mehr vorliegt, so gilt dies nicht rückwirkend. Zum anderen können im Rahmen des Art. 59 ZP nur solche Rechtspositionen zur Abwägung der Rechte von Unionsbürgern und türkischen Staatsangehörigen herangezogen werden, die von dem ZP erfasst werden. Es geht nämlich nicht um eine allgemeine Abwägung, sondern um eine Abwägung der Rechtsstellung „in den vom Protokoll erfassten Bereichen“. Beruht das Bleiberecht von Familienangehörigen von Unionsbürgern aber auf Art. 21 AEUV, so könnte diese Rechtsposition nicht herangezogen werden, um eine Gleichstellung der Rechtsstellung von Familienangehörigen von Unionsbürgern mit denen türkischer Familienangehöriger zu begründen.

 

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