Gesetz:
Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980
Paragraph:
Art. 7 ARB 1/80
Autor:
OK-MigNet
Stand:
MigNet in: OK-MNet-ARB 1/80 (27.03.2021)

D.    Rechtsposition aus Art. 7 S. 2

             I.  Verhältnis zu Art. 7 S. 1
           II.  Erlöschen der Rechtsposition

I.  Verhältnis zu Art. 7 S. 1

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Art. 7 S. 2 stellt eine gegenüber S. 1 des Artikels günstigere Bestimmung dar, die darauf abzielt, unter den Familienangehörigen der türkischen Arbeitnehmer die Kinder besonders zu behandeln, indem sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern sucht, damit gemäß dem Zweck des ARB 1/80 schrittweise die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verwirklicht wird.

EuGH, Urt. v. 21.01.2010, Bekleyen, C-462/08, Rn. 25

Anders als Art. 7 S. 1, der verlangt, dass der Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers bei diesem für gewisse Zeit ununterbrochen seinen Wohnsitz hat, enthält Art. 7 S. 2 keine Voraussetzung eines tatsächlichen Zusammenlebens in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitnehmer.

EuGH, Urt. v. 21.01.2010, Bekleyen, C-462/08, Rn. 26

Art. 7 S. 2 dient nicht dazu, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen, sondern soll den Zugang der Kinder von türkischen Arbeitnehmern zum Arbeitsmarkt erleichtern.

EuGH, Urt. v. 21.01.2010, Bekleyen, C-462/08, Rn. 27

2

Da Art. 7 S. 2 den Kindern türkischer Arbeitnehmer den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll, ist die Entstehung des Rechts nicht davon abhängig, dass ein Elternteil zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine Berufsausbildung im Aufnahmemitgliedstaat beginnt, nach wie vor die Arbeitnehmereigenschaft besitzt oder in diesem Staat wohnt. Es ist kein zeitlicher Zusammenhang des Aufenthalts des türkischen Arbeitnehmers und der Aufnahme der Ausbildung erforderlich. Art. 7 S. 2 ist daher dahin gehend auszulegen, dass sich das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der im Aufnahmemitgliedstaat länger als drei Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war, in diesem Mitgliedstaat nach Abschluss seiner Berufsausbildung auch dann auf das Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und das entsprechende Aufenthaltsrecht berufen kann, wenn es, nachdem es mit seinen Eltern in den Herkunftsstaat zurückgekehrt war, allein in den betreffenden Mitgliedstaat zurückkehrte, um dort seine Ausbildung aufzunehmen.

EuGH, Urt. v. 21.01.2010, Bekleyen, C-462/08, Rn. 45

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Art. 7 S. 2 verleiht den Kindern türkischer Arbeitnehmer, die im Bundesgebiet eine Berufsausbildung abgeschlossenn haben, einen uneingeschränkten Bewerbungsanspruch mit dem einhergehenden Aufenthaltsrecht, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts im Mitgliedstaat und unabhängig vom ursprünglichen Einreisezweck:

„Art 7 S. 2 verleiht nämlich seinem Wortlaut nach klar, eindeutig und ohne dass dies an Bedingungen geknüpft wäre, das heißt mit unmittelbarer Wirkung, den Kindern türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, das Recht, sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot zu bewerben, sofern ein Elternteil dort seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war. Ebenso wie das Recht auf Aufnahme und Ausübung jeder Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ohne Aufenthaltsrecht nicht denkbar ist, beinhaltet das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, zwangsläufig die Anerkennung eines Aufenthaltsrecht des Bewerbers.“

EuGH, Urt. v. 05.10.1994, Eroglu, C-355/93.

4

Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht aus Art. 7 S. 2 hängt somit lediglich von folgenden Voraussetzungen ab:

–         
Das Kind des betroffenen türkischen Arbeitnehmers hat nach rechtmäßiger Einreise eine Berufsausbildung abgeschlossen und
–         
ein Elternteil war in diesem Staat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt.

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Entsprechend dem Sinn und Zweck der Vorschrift, die Integration von Kindern türkischer Arbeitnehmer zu fördern und diesen nach Abschluss einer Berufsausbildung den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, können diese die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis beanspruchen, wenn ein Elternteil in der Vergangenheit mindestens drei Jahre lang ordnungsgemäß in diesem Mitgliedstaat beschäftigt war. Der Elternteil braucht dagegen zu dem Zeitpunkt, zu dem sein Kind ins Arbeitsleben eintreten will, nicht mehr dort zu arbeiten oder zu wohnen.

EuGH, Urt. v. 19.11.1998, Akmann, C-210/97.

6

Anders als Art. 7 S. 1 knüpft S. 2 nicht an das Vorliegen der Entstehungsvoraussetzungen im Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Rechtsposition an, sondern setzt nur voraus, dass in der Vergangenheit ein Elternteil in dem Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war. Dementsprechend enthält die Regelung gerade keine das familiäre Zusammenleben schützende Rechtsstellung, wie sie dem S. 1 immanent ist.

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Das Merkmal Berufsausbildung ist weit auszulegen.

Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen v. 11.01.2007 in der Rechtssache C-325/05 – Derin.

Der Begriff der „Berufsausbildung“ wird im ARB 1/80 nicht definiert. Seine Bedeutung ist auch vom EuGH bislang nicht bestimmt worden; allerdings hat er das Ziel der Vorschrift, zu der dieser Begriff gehört, herausgearbeitet. Art. 7 S. 2 stellt nach Auffassung des EuGH eine gegenüber Abs. 1 günstigere Bestimmung dar, weil sie die Kinder eines türkischen Arbeitnehmers insoweit besonders behandeln wolle, als sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern suche, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise zu verwirklichen.

8

Im Hinblick auf dieses Ziel war der Generalanwalt in der Rechtssache Derin der Auffassung, dass der Begriff „Berufsausbildung“ eine vergleichbare Auslegung wie der gleiche Begriff in Art. 166 AEUV erfahren sollte, weil beide Vorschriften vergleichbare Ziele verfolgen. Art. 166 AEUV weist nämlich der AEUV die Aufgabe zu, die Maßnahmen der Mitgliedstaaten für die berufliche Bildung zu ergänzen, um insbesondere die berufliche Eingliederung und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Der EuGH hat den Begriff „Berufsausbildung“ iSd Vertrags weit ausgelegt. So erfasst dieser Begriff nach der Rspr. jede Form der Ausbildung, die auf eine Qualifikation für einen bestimmten Beruf oder eine bestimmte Beschäftigung vorbereitet oder die die besondere Befähigung zur Ausübung eines solchen Berufs oder einer solchen Beschäftigung verleiht, und zwar unabhängig vom Alter und vom Ausbildungsniveau der Schüler und Studenten und selbst dann, wenn der Lehrplan auch allgemeinbildenden Unterricht enthält.

Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen v. 11.1.2007 in der Rechtssache C-325/05 – Derin.

II.         Erlöschen der Rechtsposition

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Die Frage, wann eine Rechtsposition nach Art. 7 S. 2 erlischt, hat der EuGH in der Rechtssache Torun dargelegt.

EuGH, Urt. v. 16.02.2006, Torun, C-502/04, Rn. 16 ff.

Danach handelt es sich bei dieser Rechtsposition um eine gegenüber S. 1 günstigere Bestimmung, die daher nicht restriktiver ausgelegt werden kann als S. 1. Folglich kann es nur zwei Arten von Beschränkungen der durch Art. 7 S. 2 verliehenen Rechte geben: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit i.S.v. Art. 14 Abs. 1 dar oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen. Diese Rechtsansicht hat der EuGH nochmals in der Rechtssache Derin bestätigt.

EuGH, Urt. v. 18.07.2007, Derin, C-325/05.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Kommentierung zu Art. 7 S. 1 Bezug genommen.

10

Zu den Auswirkungen einer Einbürgerung bzw. dem Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit siehe Abschnitt C.III.

 

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