A. Anwendbarkeit des AufenthG (Abs. 1)

 

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Bei dem FreizügG/EU handelt sich um ein Spezialgesetz, das dem AufenthG vorgeht, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG).

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Das AufenthG findet nur in Fällen Anwendung, in denen

  • eine ausdrückliche Verweisung die Anwendbarkeit eröffnet (§ 11)),
  • es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als das FreizügG/EU (§ 11 Abs. 14 Satz 1) oder
  • die Ausländerbehörde das Nichtbestehen oder den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 oder des Rechts nach § 2 V festgestellt hat (§ 11 Abs. 14 Satz 2).

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§ 11 Abs. 1 enthält Ausnahmeregelungen, die einzelne Regelungen des AufenthG für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen für anwendbar erklärt, d.h. auf Ausländer, die nach § 2 Abs. 1 das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben.

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Demgegenüber hat § 11 Abs. 14 Satz 2 die Aufgabe, die Anwendbarkeit des AufenthG auf diejenigen Ausländer zu erstrecken, die nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigt sind und bei denen die Ausländerbehörde nach §§ 2 Abs. 7, 5 Abs. 4 oder nach § 6 Abs. 1 eine Verlustfeststellung erlassen hat. In § 11 Abs. 14 Satz 2 findet sich eine bereichsspezifische Beschränkung, in der folgende Ausnahme normiert wird:

„sofern dieses Gesetz keine besonderen Regelungen trifft“.

Eine Ausnahmeregelung findet sich etwa in § 7, in dem die Ausreisepflicht und Befristung speziell geregelt sind.

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In Abs. 1 sind diejenigen Vorschriften (positiv) aufgezählt, die auch auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und Familienangehörige entsprechend anzuwenden sind. Anwendbar sind folgende Bestimmungen des AufenthG:

  • § 3 Abs. 2 AufenthG – Ausnahmen von der Passpflicht,
  • § 11 Abs. 8 AufenthG – Betretenserlaubnis,
  • § 13 AufenthG – Grenzübertritt,
  • § 14 Abs. 2 AufenthG – Ausnahmevisa und Passersatzpapiere,
  • § 44 Abs. 4 AufenthG – Teilnahme am Integrationskurs nach Maßgabe freier Kapazitäten,
  • § 45a – Berufsbezogene Deutschsprachförderung,
  • § 46 Abs. 2 AufenthG – Ausreiseverbot,
  • § 50 Abs. 3–6 AufenthG – zur Ausreisepflicht,
  • § 59 Abs. 1 S. 6 u. 7 AufenthG – Unterbrechung der Ausreisefrist,
  • § 69 AufenthG – Gebühren für bestimmte Amtshandlungen,
  • § 73 AufenthG – sonstige Beteiligungserfordernisse im Visumverfahren und bei der Erteilung von Aufenthaltstiteln,
  • § 74 Abs. 2 AufenthG – Weisungsbefugnis der Bundesregierung,
  • § 77 Abs. 1 AufenthG – Formvorschriften,
  • § 80 AufenthG – Handlungsfähigkeit Minderjähriger,
  • § 82 Abs. 5 AufenthG – Mitwirkung des Ausländers bei der Ausstellung von Dokumenten,
  • § 85 AufenthG – Berechnung von Aufenthaltszeiten,
  • §§ 86–88, 90, 91 AufenthG – Datenübermittlung und Datenschutz,
  • § 95 Abs. 1 Nr. 4 und 8, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 AufenthG – ausgewählte Strafvorschriften,
  • §§ 96, 97 AufenthG – Einschleusen von Ausländern,
  • § 98 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 2a, Abs. 3 Nr. 3, Abs.  4 u. 5 AufenthG – ausgewählte Bußgeldvorschriften,
  • § 99 AufenthG – Verordnungsermächtigung.

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Mit dem RLUmsG 2007 wurde ein Verweis auf § 73 AufenthG aufgenommen, wonach Sicherheitsabfragen möglich sind, nachdem im Rahmen der Evaluierung des ZuwG festgestellt worden war, dass Sicherheitsanfragen bei drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern nicht möglich sind. Die Aufnahme des § 73 AufenthG in die Aufzählung ermöglicht entsprechende Abfragen. Sicherheitsabfragen können demnach sowohl durch die Ausländervertretung im Rahmen der Visumentscheidung gegenüber drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern als auch durch die Ausländerbehörde bei ausländerrechtlichen Entscheidungen gegenüber Unionsbürgern oder ihren drittstaatsangehörigen Familienangehörigen durchgeführt werden. Mit Beschränkung auf die Tatsachen, die für eine Feststellung gem. § 6 Abs. 1 relevant sind, wird den hohen europarechtlichen Anforderungen für eine Visumversagung oder eine Feststellung des Verlustes des Aufenthaltsrechts Rechnung getragen.

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Der frühere Verweis auf § 77 Abs. 2 AufenthG, wonach die Versagung und die Beschränkung eines Visums und eines Passersatzes vor der Einreise keine Begründung und Rechtsbehelfsbelehrung bedürfen und die Versagung an der Grenze nicht der Schriftform unterliege, wurde wegen Unvereinbarkeit mit Art. 30 i.V.m. Art. 15 Freizügigkeits-RL bzw. Art. 13 SGK durch das RLUmsG 2007 gestrichen. Die Versagung eines Visums zur Familienzusammenführung nach § 2 Abs. 4 S. 2 muss dem Betroffenen nach Art. 30 I i.V.m. Art. 15 Freizügigkeits-RL schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann. Außerdem muss eine Rechtsmittel- oder Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt sein (§ 30 Abs. 3 Freizügigkeits-RL). Art. 13 Abs. 2, 3I SGK bestimmt, dass die Einreiseverweigerung nur mittels einer schriftlichen und begründeten Entscheidung unter genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung erfolgen kann. Dabei sollen zugleich Angaben zu Kontaktstellen gemacht werden, die den Ausländer über eine rechtliche Vertretung unterrichten können.

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Mit S. 3 wird der Verweis auf § 82 Abs. 5 AufenthG dem besonderen Rechtsstatus von Unionsbürgern angepasst. Mit der Einführung des neuen Abs. 5 in § 82 AufenthG, der die Vorlage von bzw. die Mitwirkung an der Erstellung von Lichtbildern regelt, wurde eine entsprechende Spezialregelung auch für Unionsbürger erforderlich. Es wurde daher mit dem AuslRÄndG 2007 ein Verweis auf § 82 Abs. 5 AufenthG aufgenommen. Dieser Verweis musste an die spezielle Situation der Unionsbürger angepasst werden. Da die Unionsbürger selbst – anders als ihre drittstaatsangehörigen Familienangehörigen – kein bundeinheitlich vorgegebenes Dokument erhalten, das mit einem Foto versehen ist, ein Foto aber gleichwohl für die Führung der Ausländerdatei A gem. § 65 AufenthV benötigt wird, wurde die Verpflichtung des § 82 Abs. 5 AufenthG dahin gehend modifiziert, dass die Verpflichtung, ein Foto vorzulegen oder bei seiner Herstellung mitzuwirken, entsprechend für Unionsbürger gilt, deren Lichtbilder für die Führung der Ausländerdatei benötigt werden.

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In die Vorschrift des Abs. 1 wurden mit dem RLUmsG 2007 weitere Verweise auf das AufenthG im Bereich der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten aufgenommen . Die Zuwiderhandlung gegen eine Ausreiseuntersagung gem. § 46 Abs. 2 AufenthG ist auch für Unionsbürger – ebenso wie bei Drittstaatsangehörigen sowie bei Deutschen, denen aus demselben Grund der Pass versagt wurde – strafbar. Der Verweis auf § 95 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG dehnt die Strafbarkeit der Tathandlung auf die Unionsbürger aus.

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Die Tathandlung des § 95 Abs. 1 Nr. 8 AufenthG (Geheimbündelei) ist auch für Unionsbürger strafbar. Ein Grund für eine Privilegierung von Unionsbürgern gegenüber Drittstaatsangehörigen war nach Auffassung des Gesetzgebers nicht ersichtlich.

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Die in § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (ua unrichtige Angaben zur Titelbeschaffung sowie – durch das RLUmsG 2007 neu eingeführt – unrichtige Angaben zur Beschaffung einer Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung) unter Strafe gestellte Handlung ist auch für Deutsche strafbar. Die Strafbarkeit wurde mit dem Verweis in § 11 Abs. 1 auf Unionsbürger ausgedehnt. Abs. 4 ermöglicht die Einziehung von Gegenständen, auf die sich die Straftat des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG bezieht.

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Der mit dem RLUmsG 2007 neu eingefügte Abs. 2a des § 98 AufenthG (Beauftragung von Ausländern mit der Erbringung einer selbstständigen Dienst- oder Werkleistung, wenn der Ausländer die erforderliche Erlaubnis nicht hat) wurde auch für Unionsbürger für anwendbar erklärt. Deutsche können die Tathandlung nach dem AufenthG ebenfalls begehen und entsprechend belangt werden. Sie kann gem. § 98 Abs. 5 AufenthG mit einer Geldbuße von bis zu 500.000 EUR geahndet werden. § 98 Abs. 5 AufenthG wurde insoweit ebenfalls für anwendbar erklärt.

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Die Tathandlung des § 98 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (sich der grenzpolizeilichen Kontrolle entziehen) ist für Deutsche nach den passrechtlichen Vorschriften eine Ordnungswidrigkeit. Sie wurde daher auch für Unionsbürger eine Ordnungswidrigkeit. Sie kann – wie auch bei Deutschen – mit einem Bußgeld von bis zu 5.000 EUR geahndet werden. § 98 Abs. 5 AufenthG wurde insoweit ebenfalls für anwendbar erklärt.

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Die gem. § 98 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG als Ordnungswidrigkeit zu ahndende Handlung (Umgehen der Grenzübergangsstellen) ist nach den passrechtlichen Vorschriften auch für Deutsche eine Ordnungswidrigkeit. Die Aufnahme des Verweises in § 11 Abs. 1 machte die Handlung auch für Unionsbürger zur Ordnungswidrigkeit. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist ein Bußgeld von bis zu 5.000 EUR möglich. § 98 Abs. 5 AufenthG wurde insoweit für anwendbar erklärt. Dieser Rahmen kann jedoch für Unionsbürger nicht vollständig ausgeschöpft werden, da Deutsche nach den passrechtlichen Vorschriften nur mit einer Geldbuße von bis zu 2.500 EUR belegt werden können. Daran muss sich aus europarechtlichen Gründen auch die konkrete Bußgeldhöhe bei Unionsbürgern orientieren.

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Gem. § 98 Abs. 4 AufenthG ist der Versuch nach Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 3 Nr. 2 AufenthG ebenfalls eine Ordnungswidrigkeit. Auch dies wurde auf Unionsbürger ausgedehnt. Für Deutsche ist der Versuch der beiden Tathandlungen nach den passrechtlichen Vorschriften ebenfalls eine Ordnungswidrigkeit.


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