E.      Aufenthaltskarte für Familienangehörige mit Drittstaatsangehörigkeit

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§ 5 Abs. 1 FreizügG/EU normiert die den drittstaatsangehörigen Familienangehörigen auszustellende Aufenthaltskarte. Die Aufenthaltskarte ist eine Aufenthaltsbescheinigung, kein Aufenthaltstitel, welche für den Familienangehörigen die Ausübung der durch das Unionsrecht zuerkannten Freizügigkeit feststellt. Sie ist, da bereits nach dem Unionsrecht ein Aufenthaltsrecht für Familienangehörige besteht, deklaratorischer Natur.

vgl. EuGH, U. v. 12.03.2014, O. u. B., C-456/12ECLI:EU:C:2014:135, Rn. 60;
EuGH, U. v. 21.06.2011, Dias, C-325/09ECLI:EU:C:2011:498, Rn. 49
BayVGH, U. v. 25.05.2019 - 10 BV 18.281 - Rn. 23.

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Allein durch Ausstellung einer Aufenthaltskarte kann daher kein Aufenthaltsrecht entstehen. Dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen wird keine Aufenthaltskarte „erteilt“, sondern lediglich ausgestellt (§ 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Im umgekehrten Fall wird sie - was den Gesetzgeber 2013 veranlasst hat, den insoweit irreführenden deutschen Gesetzestext zu korrigieren - nicht „widerrufen“, sondern schlicht „eingezogen“ (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU - anders noch die bis 28. Januar 2013 gültige Fassung von § 5 Abs. 5 FreizügG/EU: Aufenthaltskarte kann „widerrufen“ werden).

HessVGH, B. v. 27.01.2020 - 7 A 1466/17.Z, ECLI:DE:VGHHE:2020:0127.7A1466.17.00,  Rn. 14

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Die Aufenthaltskarte hat im Unterschied zur Aufenthaltserlaubnis keinen rechtsbegründenden oder auch nur feststellenden, sondern lediglich einen deklaratorischen Charakter.

EuGH, Urteil vom 12.03.2014, O., C- 456/12ECLI:EU:C:2014:135 - Rn. 60
HessVGH, B. v. 27.01.2020 - 7 A 1466/17.Z, ECLI:DE:VGHHE:2020:0127.7A1466.17.00
HessVGH, B. v. 31.07.2019 - 7 B 1368/19, ECLI:DE:VGHHE:2019:, 0731.7B1368.19.00 - Rn. 15
OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 15.10.2019 - OVG 3 S 64.19, ECLI:DE:OVGBEBB:2019:1015.OVG3S64.19.00-, Rn. 7
BayVGH, Urteil vom 25.06.2019 - 10 BV 18.281 - Rn. 23

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Die Regelung des § 5 FreizügG/EU richtet sich nach den Vorgaben der sog. UnionsbürgerRL und setzt diese in nationales Recht um. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 RL 2004/38/EG sieht die Ausstellung einer Aufenthaltskarte vor und normiert in Absatz 2 die Dokumente, deren Vorlage die Mitgliedstaaten hierfür verlangen.

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Die Aufenthaltskarte bringt über die in ihr vorzunehmende Konkretisierung des Drittstaatsangehörigen als „Familienangehörigen eines Unionsbürgers“ die Akzessorietät des Aufenthalts zum Ausdruck und schafft Rechtssicherheit. Der Gerichtshof der EU hat hierzu ausgeführt:

"Denn zum einen ermöglicht, wie die Europäische Kommission im Wesentlichen feststellt, der deklaratorische Charakter der Aufenthaltskarte dem Drittstaatsangehörigen, der sich hinsichtlich der Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts weiterhin in einer Situation rechtlicher Unsicherheit befindet, den Nachweis, sofern die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für sein Aufenthaltsrecht erfüllt sind, dass sein abgeleitetes Aufenthaltsrecht besteht, was sowohl die Ausübung dieses Rechts als auch seine Integration im Aufnahmemitgliedstaat erleichtert.

Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nur der Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, von der Visumspflicht für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten entbindet. Wie sich aus dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, soll diese Befreiung die Ausübung der Freizügigkeit für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, erleichtern (Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a., C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 40 und 41)."

EuGH, U. v. 27.06.2018, Diallo, C-246/17, ECLI:EU:C:2018:499, Rn. 66 f.

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Gem. Art. 9 der UnionsbürgerRL stellen die Mitgliedstaaten eine Aufenthaltskarte aus, wenn ein Aufenthalt von über drei Monaten geplant ist. Hier genügt bereits die Absicht eines längerfristigen Aufenthalts für die Ausstellung einer Aufenthaltskarte. Es bleibt dem Drittstaatsangehörigen damit unbenommen, bereits unmittelbar nach Einreise eine Aufenthaltskarte zu beanspruchen.

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Die Frist zur Einreichung des Antrags auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte muss nach der UnionsbürgerRL jedoch mindestens drei Monate ab Einreise betragen, bevor die Mitgliedstaaten berechtigt wären, die Nichterfüllung der Pflicht mit Sanktionen zu ahnden, was im FreizügigG/EU nicht umgesetzt wurde.

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Nach Art. 10 der UnionsbürgerRL wird spätestens sechs Monate nach Einreichung des Antrags eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers ausgestellt.

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Gem. § 5 Abs. 2 FreizügigG/EU wird die Aufenthaltskarte von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten nach Geltendmachung der Voraussetzungen des Rechts auf Aufenthalt (gem. § 5a) ausgestellt.

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Die nach § 5a FreizügigG/EU vorzulegenden Dokumente für Familienangehörige sind auf die Bescheinigung des Unionsbürgers über sein Aufenthaltsrecht gem. § 5 Abs. 1 und den Nachweis der familiären Verbindung mit dem Unionsbürger beschränkt, ohne dass hier zumindest bei Ehegatten und Verwandten in absteigender Linie noch wirtschaftliche Kriterien geprüft werden dürfen, wenn der Stammberechtigte keine Veranlassung zur Prüfung des Fortbestands seines eigenen Rechts bietet.

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In Umsetzung von Art. 11 Abs. 1 der UnionsbürgerRL „soll“ die Aufenthaltskarte für fünf Jahre gültig sein.

Die Soll-Regelung des § 5 FreizügigG/EU lässt Raum in Fällen einer Atypik und schließt eine kürzere Gültigkeitsdauer nicht aus. Eine solche liegt nach der UnionsbürgerRL jedoch nur in Fällen vor, in denen der Unionsbürger eine Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren anstrebt. Lediglich diese Einschränkung wurde nach Gemeinsamen Standpunkt des Rates 2003 in Art. 11 aufgenommen, nachdem bis dahin die Aufenthaltskarte ausnahmslos eine Gültigkeit von mindestens fünf Jahren vorsah.

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Das Erlöschen der Aufenthaltskarte durch Auslandsaufenthalt ist im FreizügigG/EU nicht geregelt.

Gem. Art. 11 Abs. 2 UnionsbürgerRL wird die Gültigkeit der Aufenthaltskarte weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.

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Im Umkehrschluss sind damit Auslandsabwesenheiten die nicht der Erfüllung militärischer Pflichten dienen, Abwesenheiten aus vorübergehendem Grund von mehr als sechs Monaten und Abwesenheiten von mehr als zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus gewichtigem Grund nach dem Gemeinschaftsrecht schädlich, d.h. die Aufenthaltskarte wird ungültig.

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Eine explizite Umsetzung zum Erlöschen der Aufenthaltskarte aus Gründen der Abwesenheit wird in § 5 FreizügigG/EU nicht vorgenommen.

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Der Verweis auf § 4a Abs. 6 ist insoweit unzureichend, da dort die Vorgaben der UnionsbürgerRL zur Kontinuität des Aufenthalts und damit zur Anrechnungsregelung für die erforderlichen Zeiten des fünfjährigen Aufenthalts zur Erlangung des Daueraufenthaltsrechts transformiert werden.

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In entsprechender Umsetzung von Art. 11 Abs. 2 der UnionsbürgerRL wird den deutschen Behörden durch andere Mitgliedstaaten bei Rücknahmeersuchen für Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltskarte (u.a. durch das Königreich Spanien) das automatische Erlöschen der von dort ausgestellten Aufenthaltskarte aufgrund sechsmonatiger Abwesenheit mitgeteilt und einer Rückübernahme in diesen Fällen nicht zugestimmt.

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Das Erfordernis einer förmlichen Feststellung des Erlöschens der Aufenthaltskarte bei schädlichem Auslandsaufenthalt ergibt sich aus dem Gemeinschaftsrecht nicht.

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Nimmt der Drittstaatsangehörige sein Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt im ausstellenden Aufnahmemitgliedstaat nicht mehr wahr, wird die Freizügigkeit nicht behördlicherseits beschränkt, im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der UnionsbürgerRL keine derartige Entscheidung getroffen, die den Verfahrensgarantien der Art. 30 und 31 der UnionsbürgerRL unterworfen wäre. Die (erneute) Inanspruchnahme der Freizügigkeit bei Wiederzuzug des Unionsbürgers oder Wiederaufnahme einer familiären Lebensgemeinschaft mit diesem bleibt unbenommen.

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Das Ungültigwerden der Aufenthaltskarte durch Auslandsaufenthalt kann im Übrigen den Verlust „des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügigG/EU“ nicht bewirken. Ein hiervon erfasstes touristisches voraussetzungsloses Begleitrecht besteht auch bei Aufgabe des Lebensmittelpunktes im ehemaligen Aufnahmemitgliedstaat fort.

 

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