Die Grundfreiheit aller Unionsbürger zum Aufenthalt in den anderen Mitgliedstaaten impliziert das Recht auf Ausreise, wie sie für deutsche Staatsangehörige durch Art. 2 Grundgesetz gewährleistet ist. Die Ausreisefreiheit ist mit Inkrafttreten der Unionsbürgerrichtline ausdrücklich in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie geregelt. Hiernach haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Der Anwendungsbereich ist weit zu verstehen, da er allen Unionsbürgern, die sich im Besitz eines gültigen Ausweisdokuments befinden, das Recht verleiht, das Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats, einschließlich ihres eigenen Herkunftsstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Nach Abs. 2 darf für die Ausreise weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität gefordert werden, nach Art. 4 Abs. 3 haben die Mitgliedstaaten ihren Staatsangehörigen – gemäß ihren Rechtsvorschriften- einen Personalausweis oder einen Reisepass auszustellen, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und diese Dokumente zu verlängern. Die weite Auslegung der Ausreisefreiheit bekräftigt der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung in der Rechtssache Jipa
EuGH U. v. 10.07.2008 – C-33/07 –, Jipa, Slg. 2008, I-5157.
Dem Verfahren in der Rechtssache Jipa lag eine Ausreiseuntersagung des rumänischen Staates für einen eigenen Staatsangehörigen zugrunde, der von einem anderen Mitgliedstaat nach Rumänien zurückgeführt worden war. Der Europäische Gerichtshof erinnerte daran, dass die durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten ihrer Substanz beraubt wären, wenn der Herkunftsmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ohne stichhaltige Rechtfertigung verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Eine Beschränkung der Rechte aus Art. 18 EG-Vertrag und Art. 4 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie erachtete der Gerichtshof grundsätzlich aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als zulässig.
Den Mitgliedstaaten stehe es zwar im Wesentlichen weiterhin frei zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern würde. Diese Anforderungen im Kontext der Gemeinschaft, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von dem grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit der Personen rechtfertigen sollen, seien jedoch eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Gemeinschaft bestimmt werden könne.
Das Gemeinschaftsrecht steht nach dieser Entscheidung einer nationalen Regelung, die die Freizügigkeit beschränkt, nicht entgegen, wenn zum einen das persönliche Verhalten des Staatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und zum anderen die vorgesehene beschränkende Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.
In gleicher Weise nunmehr auch
EuGH (U. v. 17.11.2011 - C-430/10 -, Gaydarov, Slg. 2011, I-0000),
mit dem der Gerichtshof geurteilt hat:
Art. 21 AEUV und Art. 27 der Richtlinie 2004/38/EG stehen einer nationalen Regelung nicht entgegen, wonach das Recht eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, insbesondere deshalb beschränkt werden darf, weil er in einem anderen Staat wegen Handels mit Betäubungsmitteln strafrechtlich verurteilt wurde, sofern erstens das persönliche Verhalten dieses Staatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, zweitens die vorgesehene beschränkende Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und drittens diese Maßnahme Gegenstand einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle sein kann, die es ermöglicht, ihre Rechtmäßigkeit im Hinblick auf die Anforderungen des Unionsrechts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu überprüfen.
In einem Vorabentscheidungsverfahrens des Tribunal du Travail (Belgien)
EuGH, U. v. 18.07.2006 – C-406/04 –, De Cuyper, Slg. 2006, I- 6947
entschied der Europäische Gerichtshof, dass die Voraussetzung eines Wohnsitzes im Arbeitslosengeld gewährenden Mitgliedstaat keinen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht darstellt. Seiner ständigen Rechtsprechung folgend stellte der Gerichtshof fest, dass die in Rede stehende nationale Regelung einige Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie ihre Freizügigkeit, sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben und sich dort aufzuhalten, wahrgenommen haben, eine Beschränkung der Freiheiten darstellt, die Art. 18 EG jedem Unionsbürger verleiht. Gemessen an dieser Grundfreiheit prüfte der Gerichtshof die Rechtfertigung einer Beschränkung anhand seiner aufgestellten Rechtsgrundsätze, wonach eine solche Beschränkung nach Gemeinschaftsrecht nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht rechtmäßigerweise verfolgten Zweck steht.
Die Aufenthaltsklausel trägt nach dem Urteil der Notwendigkeit Rechung, die Situation des Arbeitslosen zu überwachen. Insoweit lag ein auf objektiven Erwägungsgründen beruhendes und verhältnismäßiges Allgemeininteresse vor, das die Beschränkung rechtfertigte.
Zur Vereinbarkeit der Beschränkung der Freizügigkeit mit Art. 18 EG in der nationalen Rechtsprechung durch Passversagung oder Meldeauflagen, vgl. beispielhaft die Entscheidungen des OVG Berlin-Brandenburg (OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 11.09.2007 - 5 S 56/07-, NJW 2008, 313) und OVG Niedersachen (OVG Niedersachsen, B. v. 08.10.2008 - 11 ME 306/08 -, Steuerflucht), Urteile des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 25.07.2007 - 6 C 39.06 -, Globalisierungsgegner) und OVG Bremen (OVG Bremen, U. v. 02.09.2008 - 1 A 161/06 -, Fußball-Hooligans), das auch (vgl. S. 9 der Entscheidung) auf die vergleichbaren Anforderungen an eine Ausreisebeschränkung aus Art. 2 Abs. 2 und 3 des 4. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention verweist.
Mit Aufnahme der Freizügigkeit in der Charta der Grundrechte und Beitritt der Europäischen Union zur EMRK darf damit gerechnet werden, dass vormals nationale Regelungen eine neue Qualität erhalten werden.
Ein zunehmender europarechtlicher Kontext ist auch vor nachstehendem Hintergrund zu erwarten. Die Verabschiedung der Unionsbürgerrichtlinie erfolgte unter Geltung von Art. 18 EG-Vertrag, der der Gemeinschaft gem. Art. 18 Abs. 3 betreffend Pässe und Personalausweise sowie Aufenthaltstitel keine Befugnis zum Erlass von Rechtsvorschriften zur Erleichterung der Freizügigkeit verlieh. Die Vereinheitlichung von Aufenthaltstiteln durch europäische Rechtsakte beruhte bislang auf der Kompetenz der Gemeinschaft zur Grenzüberwachung. Nunmehr ermächtigt Art. 77 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union die Gemeinschaft – zur Erleichterung der Ausübung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts gem. Art. 20 Abs. 2 lit. a – auch zum Tätigwerden auf dem Gebiet von Pässen, Personalausweisen, Aufenthaltstiteln oder diesen gleichgestellten Dokumenten.
Entsprechend liegt dem EuGH zwischenzeitlich ein Vorabentscheidungsersuchen vor, das Antworten auf eine Grundrechtsverletzung erbittet, diesbezüglich zur Beurteilung einer (nicht Überprüfungs-, sondern) Aufhebungspflicht anfragt und explizit eingetretene Bestandskraft und staatlichen Sicherungseintritt für Private in der Rechtssache C-249/11 Hristo Byankov zum Gegenstand der Anfrage macht.
Konkret fragt das vorlegende Gericht:
Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchens sind fraglos die Fragen nach Verhältnismäßigkeit und Übermaßverbot.