I. Abgeleitetes Freizügigkeitsrecht eines Drittstaatsangehörigen von einem Kind mit Unionbürgerschaft

Die Fallgestaltung unterfällt nicht unmittebar dem § 12a FreizügG/EU, da diese nur eine Ableitung der Freizügigkeit von deutschen Staatsangehörigen vorsieht.

 

Ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV resultierendes Aufenthaltsrecht kommt für einen drittstaatsangehörigen Elternteil eines Unionsbürgerkindes nur in Betracht, wenn er im maßgeblichen Zeitpunkt

  • tatsächlich für das Kind gesorgt und
  • dieses über die erforderlichen Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b UnionbürgerRL verfügt hat.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 27

Artikel 7 (Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate)

(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

    1. Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
    2. für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden
      Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
    3. - bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat
      aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder
      finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
      - über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
    4. ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a, b oder c erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

 

 

II. Kein Recht aus Art. 21 AEUV bei abgeleiteter Freizügigkeit des Kindes von der Mutter

 

Die Ableitung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV für den drittstaatsangehörigen Elternteil eines Unionsbürgerkindes ist nicht möglich, wenn das Kind selbst (nur) ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht im Aufnahmemitgliedstaat hat.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 26
BayVGH, Urteil v. 16.11.2022 - 1 B 20.2616 - Rn. 37

Der Entscheidung lag folgender Fall zugrunde:

Der Kläger, ein kosovarischer Staatsangehöriger, begehrt als Vater eines Unionsbürgerkindes (ungarische Staatsangehörigkeit) die Feststellung des Bestehens eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts und der Verpflichtung des Beklagten zur Ausstellung einer Bescheinigung darüber. Die Kindesmutter, eine ungarische Staatsangehörige, mit der der Kläger nicht verheiratet war, ging als Arbeitnehmerin einer geringfügigen Beschäftigung nach und bezog daneben für das gemeinsame Kind Eltern-, Familien- und Kindergeld sowie für sich aufstockende Leistungen nach dem SGB II. Das Kind leitete seine Freizügigkeit nur von der Mutter (Arbeitnehmereigenschaft) ab, da aufgrund ihrer Einkünfte der Lebensunterhalt des Kindes nicht vollständig gedeckt war (§ 4 FreizügG/EU). Der Kläger wollte nun seinerseits die Freizügigkeit von dem Kind ableiten.

Ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV resultierendes Aufenthaltsrecht kommt für einen drittstaatsangehörigen Elternteil eines Unionsbürgerkindes nur in Betracht, wenn er im maßgeblichen Zeitpunkt

  • tatsächlich für das Kind gesorgt und
  • dieses über die erforderlichen Existenzmittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b UnionbürgerRL verfügt hat.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 27

Artikel 7 (Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate)

(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

    1. Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder
    2. für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden
      Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder
    3. - bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat
      aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder
      finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und
      - über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder
    4. ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a, b oder c erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

 

Beruft sich ein Drittstaatsangehöriger auf ein aus der Freizügigkeitsgarantie für Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht zur Führung eines normalen Familienlebens in einem anderen EU-Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, muss die Referenzperson, von der er das Recht ableitet (hier das Kind), im Aufnahmemitgliedstaat aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt sein; ein lediglich vom anderen Elternteil (hier der Mutter) abgeleitetes Freizügigkeitsrecht des Kindes reicht hierfür nicht.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 27

Denn nach Art. 7 Abs. 2 UnionbürgerRL ist für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen erforderlich, dass die Referenzperson ihrerseits aus eigenem Recht (also nach Art. 7 Abs. 1 Buchst a bis c UnionbürgerRL) und nicht lediglich aus abgeleitetem Recht (nach Art. 7 Abs. 1 UnionbürgerRL) freizügigkeitsberechtigt ist.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 27

Die Referenzperson muss insbesondere die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b UnionbürgerRL in eigener Person erfüllen.

EuGH, Urteil vom 10. Oktober 2013 - C-86/12, Alokpa - Rn. 29
BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 27

Auf diese Voraussetzung kann hier nicht deshalb verzichtet werden, weil das Kind jedenfalls in dem für seine Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt - unabhängig von der Voraussetzung des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b UnionsbürgerRL - abgeleitet von seiner Mutter als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt war.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 27

Der Rechtsprechung des EuGH lagen zwar nur Fälle zugrunde, in denen der drittstaatsangehörige Elternteil allein oder zumindest vorrangig gegenüber dem anderen Elternteil für das Kind sorgte (EuGH, Urteile vom 10. Oktober 2013 - C-86/12, Alokpa - Rn. 29, vom 8. November 2012 - C-40/11, Iida - Rn. 68 f. und vom 19. Oktober 2004 - C-200/02, Zhu und Chen - Rn. 45). Daraus kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass ein Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Elternteils schon dann entfällt, wenn dieser die elterliche Sorge zusammen mit einem anderen (freizügigkeitsberechtigten) Elternteil wahrnimmt. Vielmehr genügt für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines die Sorge tatsächlich ausübenden drittstaatsangehörigen Elternteils, wenn "die Eltern" die Personensorge wahrnehmen (vgl. zu Art. 12 VO (EWG) Nr. 1612/68: EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - C-413/99 [ECLI:EU:C:2002:493], Baumbast und R. - Rn. 71 ff.).

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 29
BayVGH, Urteil v. 16.11.2022 - 10 B 20.2616 - Rn 37

Ungeachtet des tatsächlichen Anteils der Elternteile dürfte die Voraussetzung der Ausübung der (gemeinsamen) elterlichen Sorge für ein Kind jedenfalls regelmäßig bei Fehlen entgegenstehender Anhaltspunkte in Fällen erfüllt sein, in denen die Familie in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebt.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 30

Die in Art. 7 Abs. 1 Buchst b UnionbürgerRL für ein eigenständiges Freizügigkeitsrecht des Familienangehörigen aufgestellte Voraussetzung der Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel ist dahin auszulegen, dass es genügt, wenn diese Mittel dem Unionsbürger zur Verfügung stehen, auch wenn sie letztlich vom drittstaatsangehörigen Elternteil stammen.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 31
EuGH, Urteile vom 10. Oktober 2013 - C-86/12, Alokpa - Rn. 27, vom 16. Juli 2015 - C-218/14 [ECLI: EU:C:2015:476], Singh u. a., - Rn. 76 und vom 19. Oktober 2004 - C-200/02, Zhu und Chen - Rn. 28 und 30

Da das Recht auf Freizügigkeit als ein grundlegendes Prinzip des Unionsrechts die Grundregel darstellt, sind die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b UnionbürgerRL festgelegten Voraussetzungen unter Einhaltung der vom Unionsrecht gezogenen Grenzen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. September 2013 - C-140/12 [ECLI:EU:C:2013:565], Brey - Rn. 70 m.w.N.). Deshalb muss es einem drittstaatsangehörigen Elternteil, der sich auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV beruft, tatsächlich möglich sein, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um die Existenzmittel für das Unionsbürgerkind, von dem er sein Aufenthaltsrecht ableiten will, zu sichern. Dabei kommt es nicht auf die Herkunft der Existenzmittel an (EuGH, Urteile vom 19. Oktober 2004 - C-200/02, Zhu und Chen - Rn. 30, sowie vom 10. Oktober 2013 - C-86/12, Alokpa - Rn. 27); die Mittel können auch aus einer illegalen Beschäftigung stammen (EuGH, Urteil vom 2. Oktober 2019 - C-93/18 [ECLI:EU:C:2019:809] - Rn. 48).

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 32

Dem drittstaatsangehörigen Elternteil, der sich auf ein abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht beruft, kann ein fehlendes Erwerbseinkommen aber jedenfalls dann nicht entgegengehalten werden, wenn er sich tatsächlich und nachhaltig um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherung der Existenzmittel für das Unionsbürgerkind bemüht hat, ihm die Ausübung einer Erwerbstätigkeit aber von der Ausländerbehörde verwehrt worden ist.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 32

Deshalb kann das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b RL 2004/38/EU für das Kind nicht allein deshalb verneint werden, weil der Elternteil im maßgeblichen Feststellungszeitpunkt tatsächlich kein Erwerbseinkommen erzielt hat. 

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 33