Ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV hergeleitetes Aufenthaltsrecht für Familienangehörige eines Unionsbürgers vermittelt nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern ein Freizügigkeitsrecht im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 19

EDiesem Freizügigkeitsrecht ist durch Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 FreizügG/EU Rechnung zu tragen.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 14

Denn auf ein unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV hergeleitetes Aufenthaltsrecht für drittstaatsangehörige Familienangehörige von Unionsbürgern ist die UnionbürgerRL entsprechend anwendbar.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 24

Anders als ein aus Art. 20 AEUV resultierendes Aufenthaltsrecht, das nur "ausnahmsweise" oder bei "Vorliegen ganz besondere(r) Sachverhalte" besteht

BVerwG, Urteil v. 12.07.2018 – 1 C 16.17 – Rn. 34 m.w.N. zur Rspr. des EuGH

und gegenüber dem Recht aus Art. 21 AEUV nachrangig ist

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 24
EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - C-133/15, - Rn. 56 f.

handelt es sich bei dem aus Art. 21 Abs. 1 AEUV abgeleiteten Freizügigkeitsrecht um ein vollwertiges und eigenständiges Recht, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 24

 

Es wird unabhängig von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder dergleichen seitens des Aufnahmestaats unmittelbar Kraft primären Unionsrechts oder, je nach Sachlage, durch die zu dessen Umsetzung ergangenen Bestimmungen erworben.

EuGH, Urteil vom 8. April 1976 - C-48/75 [ECLI:EU:C:1976:57], Royer - Rn. 31 ff.
BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 24

 

Gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 19

Unionsbürger ist gemäß Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Der Unionsbürgerstatus ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 20. September 2001 - C-184/99 [ECLI:EU:C:2001:458], Grzelczyk - Rn. 30 f.). Das Recht des Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten, wird jedem, der unter den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, unabhängig von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder dergleichen seitens des Aufnahmestaats unmittelbar im primären Unionsrecht oder, je nach Sachlage, in den zu dessen Umsetzung ergangenen Bestimmungen gewährt (EuGH, Urteil vom 8. April 1976 - C-48/75 [ECLI:EU:C:1976:57], Royer - Rn. 31 ff.).

BVerwG, U. v. 21.09.2019 – 1 C 48/18 – Rn. 28

Das allgemeine Einreise- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger im Sinne des Art. 21 Abs. 1 AEUV erfährt in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Art. 45 AEUV eine spezifische (EuGH, Urteil vom 12. März 2014 - C-457/12 [ECLI:EU:C:2014:136], S. und G. - Rn. 45) und spezielle (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juli 2017 - C-566/15 [ECLI:EU:C:2017:562], Erzberger - Rn. 25) Ausprägung, die zugleich einen der fundamentalen Grundsätze der Union verkörpert (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995 - C-415/93 [ECLI:EU:C:1995:463], Bosman - Rn. 93). Gemäß Art. 45 Abs. 1 AEUV ist innerhalb der Union die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet. Nach Art. 45 Abs. 3 Buchst. b und c AEUV gibt die Freizügigkeit - vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen - den Arbeitnehmern das Recht, sich zum Zweck der Bewerbung auf tatsächlich angebotene Stellen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben.

BVerwG, U. v. 21.09.2019 – 1 C 48/18 – Rn. 28

Als Grundrecht der Arbeitnehmer und ihrer Familien (EuGH, Urteil vom 13. Juli 1983 - C-152/82 [ECLI:EU:C:1983:205], Forcheri und Marino - Rn. 11) ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht in einem engen Sinne zu verstehen. Die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 dient ebenso wie die ihr vorausgehende Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257 S. 2) dazu, die Verwirklichung der Ziele der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu erleichtern (EuGH, Urteil vom 13. Februar 1985 - C-267/83 [ECLI:EU:C:1985:67], Diatta - Rn. 15).

BVerwG, U. v. 21.09.2019 – 1 C 48/18 – Rn. 28

Sie formt den Inhalt des Grundsatzes der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, wie er in Art. 45 AEUV niedergelegt ist, auch in Bezug auf deren Familienangehörige aus und ist im Lichte des von Art. 8 EMRK gewährleisteten Anspruchs auf Achtung des Familienlebens auszulegen (EuGH, Urteil vom 18. Mai 1989 - C-249/86 [ECLI:EU:C:1989:204], Kommission/Bundesrepublik Deutschland - Rn. 10). Gemäß Erwägungsgrund 4 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ist die Freizügigkeit ein Grundrecht nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch ihrer Familien. Damit das Recht auf Freizügigkeit nach objektiven Maßstäben in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden kann, müssen ausweislich des Halbsatzes 2 des Erwägungsgrundes 6 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 alle Hindernisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellen, insbesondere in Bezug auf die Bedingungen für die Integration der Familie des Arbeitnehmers im Aufnahmeland. Dies macht es erforderlich, die bestmöglichen Bedingungen für die Integration der Familie des Wanderarbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen (EuGH, Urteil vom 13. Juni 2013 - C-45/12 - Rn. 44 ff.). In diesem Sinn bezweckt die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 nicht nur die Verwirklichung der Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer, sondern vermittelt sie Freizügigkeit auch deren Familienangehörigen.

BVerwG, U. v. 21.09.2019 – 1 C 48/18 – Rn. 28

Nach Auffassung des BVerwG schützt Art. 21 AEUV das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit und vermittelt nach der Rechtsprechung des EuGH Familienangehörigen eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers auch in bestimmten Fallkonstellationen, die nicht unmittelbar von der Richtlinie 2004/38/EG (sog. Unionsbürgerrichtlinie) erfasst werden, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 19

In Art. 21 Abs. 1 AEUV ist die Freizügigkeit der Unionsbürger primärrechtlich verankert, die auch das Recht umfasst, im Aufnahmemitgliedstaat ein normales Familienleben zu führen. Dieses Aufenthaltsrecht steht auf einer Stufe mit den Freizügigkeitsrechten aus der Richtlinie 2004/38/EG. In Fällen, in denen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers zwar aus der Richtlinie 2004/38/EG kein Recht auf Aufenthalt zusteht, sie aber dennoch auf der Grundlage des Art. 21 Abs. 1 AEUV "ein solches Aufenthaltsrecht" herleiten können, darf dies in den Voraussetzungen für die Gewährung nicht strenger sein als das Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38/EG, die darauf anzuwenden ist.

BVerwG, Urteil v. 23.09.2020 – 1 C 27/19 – Rn. 19
EuGH, Urteile vom 12. März 2014 - C-456/12, O. und B. - Rn. 50 und 61
EuGH, Urteil v. 14. November 2017 - C-165/16 [ECLI:EU:C:2017:862], Lounes - Rn. 45 und 61).

Berufe sich ein Drittstaatsangehöriger auf ein aus der Freizügigkeitsgarantie für Unionsbürger nach Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht zur Führung eines normalen Familienlebens in einem anderen EU-Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitze, müsse die Referenzperson, von der er das Recht ableite (hier das Kind) im Aufnahmemitgliedstaat aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt sein; ein lediglich vom anderen Elternteil (hier der Mutter) abgeleitetes Freizügigkeitsrecht des Kindes reiche hierfür nicht. Ein eigenes Aufenthaltsrecht des Kindes bestehe nur, wenn u.a. ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stünden (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b Unionsbürgerrichtlinie).

Außerdem müsse der drittstaatsangehörige Elternteil nach der Rechtsprechung des EuGH in dieser Fallkonstellation für ein aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht auch tatsächlich für das Kind sorgen. Die hierzu erforderlichen Feststellungen seien vom Verwaltungsgerichtshof im zurückverwiesenen Verfahren zu treffen. Ein unmittelbar aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen sei ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht, dem die Möglichkeit der Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels nicht entgegenstehe.

 

Eine entsprechende Anwendung des Freizügigkeitsrechtes auf Familienangehörige kommt nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19. Oktober 2004 – C-200/02 – „Zhou und Chen“ auch in Betracht, wenn ein Kind neben der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaates, in dem es geboren wurde, die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates besitzt, bisher aber noch nicht von einem Mitgliedstaat in den anderen gereist ist.